Sea World


Vorwort

 

Dies sind Geschichten, unserem Helden, dem Seemann Christian Rabe vom Munde abgelesen und so aufgeschrieben, dass auch Landratten das meiste davon verstehen. Christian hat mir seine Erlebnisse mit der ausdrücklichen Bitte um wahrheitsgetreue Wiedergabe seiner Worte erzählt.

Ich kann nicht verhehlen, dass mir mitunter der Angstschweiß den Nacken herunterlief, andererseits wiederum vor Lachen mein Bauch schmerzte, sosehr bewegten mich seine Geschichten von der Staatssicherheit der DDR, von fremden Ländern, seinen Frauen, Piratengold und stürmischer See.

Auf jeden Fall ist mir bewusst geworden, dass das seefahrende Volk nicht aus den feinsten Menschen besteht, aber beispielgebend ist für ein gutes Miteinander auf engstem Raum, na meistens jedenfalls. Das Erreichen verschiedenster Kulturen in relativ kurzer Zeit erweitert den eigenen Horizont um ein Vielfaches und bringt großes Verständnis gegenüber anderen Sitten und Gebräuchen mit sich.

Heute fliegt Christian als schneeweiße Möwe über die Meere, und ab und zu hört man sein aufgeregtes Schreien, auch in den Häfen und über den vielen Dächern der Schuppen und Speicher, besonders bei ein- und auslaufenden Schiffen. Achtet mal darauf!

Vielleicht ist es aber auch ganz anders.

Liebe Leser, beim Schmökern der Lektüre werden Sie schnell selbst zum »Bananenjäger« – deftige, würzige Kost, ein Menü ganz besonderer Art. Oft unglaublich, aber alles hat sich genau so zugetragen.

 

Genug der Vorworte.

Vorhang auf und viel Spaß wünscht euch G. Z.

 

 

1. Kapitel

 

Diejenigen, die in der Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik ihren Wehrdienst von 18 Monaten ableisteten, gelangten spätestens nach der sechswöchigen Grundausbildung zu der Auffassung, dass der Ausbruch des Dritten Weltkrieges näher sei als der erste Heimaturlaub.

Unterfeldwebel Bernard Beckmann, seines Zeichens Zugführer der 1. Kompanie, Zug 3 des Transportbataillon 8 in Karow/Mecklenburg drehte und wendete einen Brief in seinen hageren Händen. ‚Der kann noch auf seine Post warten’, dachte er, denn Gefreiter Christian Rabe saß im Objektknast.

Sieben Tage musste er insgesamt abbrummen. Beckmann war wirklich stinksauer auf den Gefreiten Rabe, obwohl er ihn eigentlich mochte. Dieser Soldat hatte seinen sonst so vorbildlich geführten Zug nicht zum ersten Mal in unnötiger Weise in den Dreck gezogen. Beckmann konnte sich deswegen vom Kompaniechef Major Rehberg eine Standpauke abholen.

 

In der Kompaniestube stolzierte Rehberg auf dem gebohnerten Linoleum erregt auf und ab und schimpfte lauthals.

»Wieso lässt dieser Idiot sich auch vom OvD erwischen. In allen anderen Kompanien wird genau so ein Mist gemacht!«

Der mittelgroße, untersetzt wirkende Rehberg blieb abrupt stehen und wandte sich nicht wirklich freundschaftlich an Beckmann. Nur zu gerne steckte er dabei beide Daumen seitlich hinter seinen Offiziersriemen. Mit leise zischendem Ton sagte er: »Es ist mir egal, womit die Jungs da draußen kochen. Ich befehle dir, dass sich ein solches Vorkommnis in meiner Kompanie nicht wiederholt. Sie sollen sich zumindest nicht erwischen lassen, diese Deppen. Ist das klar?«

»Jawohl, Genosse Major!«

Beckmann grüßte stramm und ging leicht angewidert aus der Stube.

Ja, das kannte er gut von den letzten Jahren, preußischer Drill von morgens bis abends. Die zweite Wehrmacht war das hier, selbst die Uniformen machten kaum Unterschiede.

Zum Aussprechen einer Strafe erließ der Bataillonskommandeur Oberstleutnant Zaun den Tagesbefehl, das Bataillon in U-Form antreten zu lassen. Er befahl dem Gefreiten Christian Rabe, vorzutreten. Christian schritt langsam und mit hängendem Kopf aus der Reihe. Drei Meter vor dem Kommandeur blieb er ruckartig stehen und machte Männchen. Er führte die rechte Hand zum Kopf und sagte laut und deutlich, die Hacken zusammenknallend:

»Genosse Oberstleutnant, Gefreiter Rabe auf Ihren Befehl zur Stelle.«

»Stehen Sie bequem, Soldat!«

Bei diesen Worten kam der Hüne von Kommandeur ihm gefährlich nahe. Christian sah schon seine Gefreitenbalken von den Schultern fliegen. Aber nein, OSL Zaun tippte ihn mit einem Finger an die Brust und wandte sich, auf den Fußballen seiner spiegelblanken Stiefel drehend, an sein Bataillon. Beide Daumen steckten jetzt hinter seinem breitem Ledergürtel. Er brüllte mehr, als dass er sprach.

»Dieser Genosse, meine Herren, schaffte es ganz alleine, in vorsätzlicher Weise mit seiner widerwärtigen Tat das gesamte Objekt in erhebliche Gefahr zu bringen. Schändlich und in wehrkraftzersetzender Weise wurde dadurch die Einsatzbereitschaft der ganzen Truppe aufs Spiel gesetzt. Und damit auch der Versuch unternommen, der Deutschen Demokratischen Republik Schaden zuzufügen, sicher zur Freude des Klassenfeindes.«

Nach einer kurzen Atempause fuhr er mit harter Stimme fort.

»In der Akte des Genossen Rabe sind schon eine ganze Reihe äußerst schwerwiegender Delikte anhängig.«

Christians Kopf zog sich immer weiter nach unten, er hatte schon keinen Hals mehr. Der OSL sprach weiter und zeigte dabei mit dem Mittelfinger waagerecht auf den einsam dastehenden Übeltäter. Den Zeigefinger hatte der Kommandeur beim Wurf mit einer Übungshandgranate verloren, die er damals auf dem Schießplatz einfach nicht loslassen wollte.

»Ich zähle da mal kurz auf: 1. Sturzbetrunken ist der Gefreite Rabe aus dem Ausgang zurückgekommen. Zudem sind ihm beim Herunterspringen vom LKW – Gefreiter Rabe wollte das Alkoholverbot im Objekt umgehen – zwei kleine Flaschen Wodka aus je einem Mantelärmel gefallen – zwei Tage Arrest. 2. Er hat in der Nacht den Standort unerlaubt verlassen und aus der Gaststätte im zwei Kilometer entfernten Dorf Wangelin zwei Fünfliterkanister, gefüllt mit Bier, und zwei Flaschen Wodka ins Objekt geschmuggelt. Der wachhabende Hauptfeldwebel hat die Kanister aus dem 2. Stock am Strick hochgezogen und ihm geholfen, vom Blitzableiter über die Fensterbank in seine Stube zu klettern – lebensgefährlich. Danach begleitete er ihn auch gleich in die Arrestzelle – drei Tage Knast. 3. Wachvergehen: Bei einer Postenkontrolle konnte man den Gefreiten Rabe im Stehen schlafend bewundern. Selbst nachdem man ihm seine Kalaschnikow von der Schulter nahm, schlief er weiter – drei Tage Arrest. Und jetzt und heute wurde Gefreiter Rabe in flagranti erwischt, wie er mit einem sogenannten UFO Kaffeewasser kochte, dieser Schwerverbrecher!«

Bei diesen Worten griff er in die Tasche seiner Uniformhose und zeigte das Corpus Delicti ostentativ mit einer Hand hoch über sich haltend.

Die Truppe brachte nun doch erhebliche Mühe auf, ernsthaft in den Reihen stehen zu bleiben.

»Wer es von Ihnen nicht kennen sollte«, fuhr er lauter werdend fort (sie kannten es alle bis auf den letzten Mann), »dem erkläre ich mal dieses teuflische Gerät. Ehedem schon immer strengstens verboten, wurde hier ein technisch unzureichender Tauchsieder produziert und offensichtlich auch eingesetzt.«

Der Oberstleutnant drehte das Objekt angewidert über sich haltend in der Runde und führte weiter aus.

»Etwa fünf Zentimeter im Durchmesser hat diese Blechdose, die einmal Klarsichtscheiben für Gasmasken in sich barg. Die beiden gleich großen Teile wurden verkehrt herum durch einen PSU-Knopf miteinander verbunden. Ich möchte nicht wissen, an wie vielen persönlichen Schutzumhängen die Plastikknöpfe fehlen? Nun sehen wir hier noch ein poröses fünfzig Zentimeter langes zweiadriges Kabel, an dem einen Ende ist jeweils eine abisolierte Ader an den Dosenrand festgemacht. Auf der anderen Seite sind auch zwei am Ende abisolierte Drähte. Soll dann Kaffee gekocht werden, wird das UFO am Kabel in eine mit Wasser gefüllte Tasse gehalten und mit der anderen Hand die blanken Drähte in eine Steckdose geführt. Innerhalb von fünf Sekunden kocht dann das Wasser und manchmal fliegt die Gebäudesicherung heraus. Wahrscheinlich werden wir in Kürze durch solch einen Unfug vollständig abbrennen.«

Der OSL brüllte sich langsam, aber stetig ein, Speichel sabberte aus seinen Mundwinkeln. Christian hätte sich am liebsten einen Regenschirm aufgespannt. »Das Ganze ist einfach nur lebensgefährlich, Genossen. Wer nach dem Dienst Kaffee trinken möchte, kann das in der Gaststätte des MHO tun. Ich weiß, dass Genosse Rabe nicht der Einzige ist, der mit solchen illegalen Gegenständen arbeitet und ich werde das in Zukunft nicht mehr hinnehmen! In diesem Objekt will ich ein solches Teil nie wieder zu Gesicht bekommen!«

Er warf das Ufo wütend auf den Boden und trat es heftig mit seinen Stiefelhacken platt wie eine Briefmarke.

»Übrigens«, schrie er weiter, »gilt das ganz genauso für eine umgebaute Rasierklinge.«

Sichtlich abreagiert wandte er sich an Christian.

»Als Erziehungsmaßnahme spreche ich Ihnen sieben Tage verschärften Arrest aus, der sofort anzutreten ist.«

Christian antwortete spontan mit der Hand zum Gruß und die Haken zusammenknallend.

»Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik!«

Der Oberstleutnant stemmte staunend die Hände in die Seite, er wiegte seinen massigen Körper leicht nach vorne und hinten und hob die Stiefelspitzen dabei an. »Mann, Sie Trottel, das war doch keine Belobigung. Wegtreten!«

Auf dem Weg zur Arrestaufnahme dachte Christian: Gott sei Dank nur Knast und nicht degradiert. Ihm fiel ein Stein vom Herzen.

Beckmann wusste natürlich auch, das Christian eine tragende Säule in seinem Zug darstellte. Der Schnellste auf der Sturmbahn, beste Ergebnisse beim Schießen. Eigentlich immer, wenn es darauf ankam, konnte man sich auf den Soldaten Rabe verlassen. Und mit UFOs und Rasierklingen wurde schon Kaffee und Tee gekocht, solange es den Standort gab.

Na ja, der Alte degradierte ihn wahrscheinlich nur deswegen nicht, weil er sein Objekt sauber halten wollte. Jede Degradierung musste an die angeschlossene Panzerdivison in Goldberg weitergemeldet werden und warf somit ein schlechtes Licht auf sein Kommando. Selbst wenn einige Soldaten aus dem Ausgang nicht rechtzeitig um ein Uhr nachts zurückkamen , ließ er von seiner Militärpolizei den Ausgangsbereich absuchen, und wenn es zwei Tage dauerte. Eigentlich musste nach vier Stunden Ausgangsüberschreitung eine republikweite Fahndung ausgelöst werden. Der Soldat galt dann als fahnenflüchtig.

Harte Schale, weiches Herz. Beckmann begab sich auf den Weg zur Arrestzelle, die direkt am Wachgebäude angrenzte. Er trat in die Wachstube ein, um sich den Schlüssel von Christians Zelle zu holen, der OvD tat doof.

»Den Schlüssel darf ich nicht rausgeben, auf gar keinen Fall. Wissen Sie doch. Was auch immer sein soll, das hat Zeit bis morgen. Dann sind die sieben Tage des Inhaftierten ehedem abgesessen. Wissen Sie doch, oder was?«

Der Oberleutnant machte sich einen Spaß daraus, den kleinen Kapo abtreten zu lassen. Beckmann verließ murrend die Stube, schlich auf die Rückseite des Gebäudes, wo sich die kleinen vergitterten Fenster der beiden Arrestzellen befanden. Ein Fenster stand auf Kipp offen. Beckmann ließ den Brief durch die Öffnung des Fensters fallen. Dann ging er wie immer gerade, als hätte er ein Lineal verschluckt, zurück ins Kompaniegebäude. Er fühlte sich gut, den OvD ausgetrickst zu haben, diesen Tagessack.

Beckmann verpflichtete sich damals freiwillig zu drei Jahren Dienst für die »Fahne.« Im Herbst ging seine Dienstzeit zu Ende, damit war auch er endlich Entlassungskandidat, ein richtiger EK. Alle Überredungskünste des Kommandos, dass er seine Armeezeit auf zwölf Jahre aufkohlen sollte, prallten erfolglos an ihm ab. Beckmann wollte ganz einfach raus aus diesem jämmerlichen militärischen Alltag. Dieses ständige Treten und Getreten werden war nichts für ihn.

Schon Bismarck soll gesagt haben: Bei der Armee gibt es nur zwei Dienstgrade und beide beginnen mit G: Gefreiter und General. Wie wahr, wie wahr.

Genau am 21. Juni 1975, zehn Uhr morgens. Christian marschierte gedankenverloren

in seiner kleinen kargen Zelle sinnlos auf und ab, da flatterte plötzlich ein Brief direkt vor seine Füße. Bedanken konnte er sich nicht für diese schöne Abwechslung. Das vergitterte Fenster lag so hoch unter der Decke, das er nicht rausschauen konnte. Sein Schlafbrett wurde ihm Punkt sechs Uhr hochgeschlossen und erst zur Nachtruhe um 22.00 Uhr wieder heruntergelassen. Im Raum stand kein Tisch noch sonst irgend etwas. Wenn er zur Toilette wollte, musste er klingeln und wurde dann zum Wachklo gebracht. So setzte sich Christian auf das einzige zugängliche Möbel, einen morschen Holzhocker und öffnete den Brief. Er versuchte, dabei ruhig zu bleiben. Die Post kam von der Seereederei Rostock, das konnte nur die Antwort auf sein Bewerbungsschreiben sein, bestimmt wieder eine Ablehnung.

 

 

Ihre Bewerbung für die Handelsflotte vom 24.04.1975

 

Wir danken Ihnen für Ihre Bewerbung.

 

Entsprechend Ihrem Schreiben und den in der Handelsflotte gegebenen Einsatzmöglichkeiten konnte Ihre Bewerbung für die Tätigkeit als Maschinenhelfer bearbeitet werden.

 

Die beigefügten Unterlagen bitten wir gewissenhaft auszufüllen (keine Frage darf unbeantwortet bleiben, Striche sind nicht zulässig) und bitten Sie, zur Aussprache am 23.07.1975 um 10.00 Uhr pünktlich zu erscheinen.

Ausspracheort: Schwerin, Filmtheater »Capitol«, Wismarsche Straße 23

 

Außerdem benötigen wir 4 Lichtbilder sowie Abschriften von Zeugnissen der schulischen und beruflichen Entwicklung.

Die Unterlagen sowie Schreibzeug sind zur Aussprache mitzubringen. Sobald Ihre Bewerbung bearbeitet ist, erhalten Sie weitere Nachricht.

 

Sollten Sie an der oben angeführten Aussprache ohne Information an uns nicht teilnehmen, können wir Ihre Bewerbung nicht weiter bearbeiten.

 

Interessenten für die Aufnahme einer Tätigkeit in der Handelsflotte aus

Ihrem Bekannten- oder Freundeskreis können an der Aussprache teilnehmen.

 

 

VEB Deutfracht Seereederei Rostock

Zentrale Kaderabteilung

Außenstelle Rostock

DDR - 25 Rostock 1

Haus der Schifffahrt

 

 

Christian küsste überglücklich den Brief und presste ihn leidenschaftlich an seine Brust. Er faltete das Schreiben äußerst korrekt zusammen und steckte es verträumt lächelnd ein, holte es dann aber wieder raus. Wohl zwanzig mal hintereinander las Christian das Anschreiben von der Reederei, bis er es auswendig konnte.

Zum Glück war es diesmal keine Ablehnung.

Der erste Schritt zu seinem Wunscharbeitsplatz befand sich gut aufgehoben in der Seitentasche seiner Uniformhose. Er klopfte mit der Handfläche dreimal gegen die Tasche, toi, toi, toi.

 

 

2. Kapitel

 

Die knapp 900.000 Einwohner des Bezirkes Rostock wurden von weit mehr als 3.000 hauptamtlichen MfS-Angehörigen und 7.900 informellen Mitarbeitern bespitzelt, manche Berufsgruppen rund um die Uhr. Ziel von Erich Mielke – seit 1957 Minister für Staatssicherheit – war es, die Gesellschaft nach innen flächendeckend zu kontrollieren.

Ministerium für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Rostock, August-Bebel-Straße, Hauptabteilung XIX, zuständig für die Sicherung und Kontrolle des Verkehrswesens sowie des Post- und Fernmeldewesens.

 

Oberst Dirk Franks Hauptaufgabe bestand darin, die Seemannskartei »Abteilung Hafen« zu bearbeiten. Er konnte mit Stolz behaupten, eine Art Gott zu spielen, denn jeder Seemann der DDR bekam von ihm einen Sichtvermerk ins Seefahrtsbuch gestempelt, mit bis zu 10 Jahren Gültigkeit. Ohne diesen Sichtvermerk gab es keinen Einsatz auf den Schiffen der vier Flottenbereiche Spezial, Asien/Amerika, Mittelmeer und Küste der Deutschen Seereederei Rostock.

Die größte aller Flotten hieß bei den Seeleuten, aber natürlich nur hinter vorgehaltener Hand, »Frank-Flotte«.

Fast jeden Tag entschied Oberst Frank aufgrund der zugeführten Akten durch die »IMs«, ob ein Matrose oder Kapitän seinen Sichtvermerk behielt oder er das in ihn gesetzte Vertrauen bei den Schnüfflern verlor. Dabei kam es nicht auf wirtschaftliche Aspekte an, wenn ein Schiff nicht auslaufen konnte, weil z.B. ein Patentträger in der Musterrolle fehlte.

Daher brauchte die DSR ständig neuen Nachschub an Arbeitskräften, resultierend aus der Ausdünnung durch die Stasi, aber auch bedingt durch eine hohe Fluktuation des Personals, das keine wirkliche Ahnung davon hatte, was sie »auf See« erwartete. Seekrankheit, Heimweh und das lange eingesperrt sein in der Hutschachtel Schiff galten als die häufigsten Kündigungsgründe.

Bis zu drei »IM« pro Schiff und Reise sorgten für einen ständigen Informationsfluss zur Stasi. Dazu kamen die Berichte der  Gesellschaftlichen Mitarbeiter Sicherheit. Typisch für einen GMS war der Politoffizier, der den Rang eines 1. Nautischen Offiziers an Bord führte und im Verlauf einer Seefahrt offiziell über jeden einen Reisebericht schreiben musste, auch über sich selbst. Die meisten POs strotzen nur so vor Dummheit und merkten selten, dass sie eigentlich in Wahrheit zu nichts nutzten. Zum Glück stellte die Reederei nicht genug Politoffiziere für jede Reise pro Schiff zur Verfügung. Aus einfachem Grund, es gab nicht genug Deppen dieser Sorte für über 300 Schiffe der DSR.

Bei Oberst Frank lag heute nur noch eine Akte auf dem Tisch. Eine Neuerfassung, eine sogenannte VSH, Vorverdichtung –, Such- und Hinweiskartei.

Auf der Karte, die an einem grauen Hefter angebracht war, stand handgeschrieben: Christian Rabe; 21.06.1955 in Wismar geboren; Größe 1,72m; Augenfarbe blau; Haarfarbe dunkelblond; besondere Kennzeichen: keine. Weiter befand sich ein Passbild, aufgeklebt auf der Karte und ein Hinweis: »Keine negativen Handlungen und Verhaltensweisen«.

Dirk lehnte sich gemütlich in seinem alten Ledersessel zurück, nahm die Akte in die Hand und öffnete sie.

Oh, dachte er, da steht ja noch nicht viel drin: Mittlerer Schulabschluss; Lehre als Rohrschlosser auf der Mathias-Thesen-Werft Wismar; zur Zeit Grundwehrdienstleistender bis Oktober 1975; gesellschaftlich und sportlich aktiv; organisiert in der FDJ, DTSB, DSF, GST; nicht in der Partei; R. hatte bisher keinen Kontakt ins NSW-Gebiet; Beurteilungen des Lehrbetriebes und des Kompaniechefs politisch positiv; geistige Reife noch nicht voll entwickelt. Einsatz erfolgt als Maschinenhelfer.

Frank schmiss das Papier gelangweilt auf seinen Schreibtisch. Widerwillig stempelte er auf der Innenseite des Aktendeckels: Sichtvermerk wird erteilt. Per Hand schrieb er dazu: Vorbereitung »Operativer Vorgang«.

Frank mochte keine Seeleute. Auch weil er im tiefsten Inneren wusste, dass das seefahrende Volk mehr wahre Freiheit besaß, als er jemals für sich erhoffen durfte. Am liebsten hätte er sie alle bespitzelt, das falsche menschlich aussehende Pack. Diese Zielgruppe war so schwer für seine Behörde einzuschätzen und trotz immenser Durchleuchtung der Personengruppe mussten immer wieder Abgänge verzeichnet werden, d.h. einige Seeleute stiegen mit Sack und Pack von Bord und blieben im Westen: Hamburg, Rotterdam oder sonst wo auf der Welt. Achteraus segeln, nannte man das, oder besser noch Republikflucht – ein schlimmes Wort.

Oberst Franks absoluter Machtbereich endete leider an der Staatsgrenze, darüber hinaus durfte er nicht mehr zuständig sein. Wenn erforderlich, wurde alles Weitere dann von einer anderen Hauptabteilung übernommen. Er wusste, wenn die Stasi jemanden suchte, konnte der sich auf der ganzen Welt nicht verstecken, höchstens in einem anderen Sonnensystem.

Frank wurde das eigenartige Gefühl nicht los, dieses kindliche Gesicht, das ihn von dem Passfoto anschaute, noch persönlich kennen zu lernen. Er wusste nur noch nicht, wie: als Täter oder als Opfer.

 

Christian kam es so vor, als ob seine achtzehn Monate Grundwehrdienst einfach nicht zu Ende gehen wollten. Als wäre die Zeit eingeschlafen, tröpfelten die letzten Wochen und Tage träge dahin, wie in einem Stundenglas. Sein Bewerbungsgespräch im Schweriner Kino stellte sich als reine Informationsveranstaltung heraus, unter dem Motto »Ein jeder Seemann ist Botschafter der Deutschen Demokratischen Republik«. Die dreihundert Plätze im Raum waren fast alle besetzt.

Christian dachte: Hoffentlich werde ich bei der großen Auswahl noch angenommen.

Bei der Abgabe seiner Unterlagen sagte ihm der Reedereiangestellte: »Wer seine Zettel hier bei mir abgibt, ist schon so gut wie auf dem Schiff.«

Seitdem fieberte Christian dem Ende der Armeezeit entgegen. Jetzt nur keine unangenehmen Vorkommnisse mehr.

 

Abendlicher Ausgang hieß das Zauberwort für die Truppe. Durch ein hohes Bereitschaftsaufkommen im Objekt kam Urlaub und Ausgang für Soldaten niedriger Dienstgrade eher selten vor. Über einen Zeitraum von 24 Stunden mussten die Fahrzeuge immer abfahrbereit sein, und in einem Transportbataillon gab es viele kleine und große Autos. Zeit- und Berufssoldaten waren meistens Außenschläfer und wurden dabei für die Besetzung der Fahrzeuge am Wochenende und nach der Dienstzeit nicht mit eingeplant.

Christian erhielt in seiner bisherigen Armeezeit das dritte Mal eine Ausgangserlaubnis, bestimmt auch zum letzten Mal. Ebenfalls Ausgang bekam sein Freund und Stubenkamerad Gefreiter Wolfgang Adler. Sie waren die einzigen »EKs« auf ihrer 10-Mann-Stube und machten viel gemeinsam. Es gab noch fünf »Spritzer« (1. Diensthalbjahr) und drei »Zwischenlappen« (2. Diensthalbjahr).

 

Wolfgang arbeitete zu Hause leidenschaftlich als Berufskraftfahrer und wurde erst mit achtundzwanzig Jahren einberufen, sozusagen auf den letzten Drücker. Christian dagegen ging gerade mal mit zwanzig Jahren ab zum Treue schwören. Beide wirkten vom scheinbaren Altersunterschied wie Vater und Sohn, als sie in strammem Marsch und in Ausgangsuniform die Bataillonsstraße entlang schritten.

Der KDL-Posten empfing sie freundlich.

»Na, Männer, wo habt ihr Wehrpass und Ausgangsschein? Her damit, bitte!«

Während der Feldwebel die vorgelegten Papiere durchsah, schaute er wichtig über seine Brille auf Christian und fragte: »So, so, Gefreiter, saubere Kragenbinde eingeknöpft? Rasiert? Kamm? Fünf Mark, Taschentuch, Gummis dabei?«

Christian protestierte.

»Mach schon hinne! Der Uri fährt sonst noch ohne mich ab.«

Tatsächlich stand der Lastwagen vom Typ Ural schon mit laufendem Motor und wartete. Die beiden waren die Letzten, die hinten auf den Wagen aufstiegen und es sich auf den harten Holzbänken gemütlich machten. Sie grinsten sich an, als säßen sie in einer Sonntagskutsche.

 

Sonnabend 19.00 Uhr, gute Zeit. Christian zählte sieben Soldaten, die sich alle freuten, endlich mal wieder unter normale Menschen zu kommen. Der Lastwagen fuhr polternd vom Parkplatz los in Richtung Plau am See, dem einzigen Ausgangsort vom Transportbataillon 8. Zwanzig Minuten später blieb der Ural ruckartig im Stadtzentrum stehen.

Der Fahrer sagte drohend, als er die Heckklappe öffnete: »Pünktlich um ein Uhr fahre ich hier wieder ab. Ich warte keine Sekunde länger und wehe, einer von euch kotzt mir das Auto voll.«

Er hätte auch gar nichts sagen brauchen, weil keiner zuhörte. Es hörte ihm nie einer zu.

Die Ausgänger liefen eilig in verschiedene Richtungen in die Stadt, den Barras hinter sich lassend. Na, für ein paar Stunden war es ja auch so.

Christian und Wolfgang betraten tief durchatmend »Das Deutsche Haus«, eine alte Kneipe mit Tanzsaal. Halb acht war die Gaststätte mäßig gefüllt. Die Soldaten setzen sich an einen freien Zweiertisch und öffneten ihre Uniformjacken.

»Geschafft, puh. Was machen wir heute?«

Christian schaute Wolfgang fragend an.

»Also, ich weiß, was ich heute tue.«

Wolfgang drehte sich wohlig von links nach rechts auf seinem Stuhl.

»Erst mal ein Hamburger Schnitzel essen und dann werde ich mich langsam, aber sicher voll laufen lassen, mehr nicht.«

»Gut.« Christian nickte zustimmend. »Dann machen wir das so.«

Wie zur Bestätigung bestellte er bei der Kellnerin, die so alt und grau aussah wie die Gaststätte selber, zwei Lübzer Bier vom Fass. Christian holte eine Packung Caro und Streichhölzer aus seiner Uniformjacke und steckte sich liebevoll eine Zigarette an. »Weißt du eigentlich«, sagte er zu Wolfgang, »dass ich, bevor ich zur Fahne einberufen wurde, weder geraucht noch Alkohol getrunken habe? Bier fand ich regelrecht eklig und, ehrlich gesagt, mit Mädchen ist es bisher auch noch nicht so doll gewesen.«

Wolfgang tat erstaunt.

»Was, du hast mit 20 noch nicht gefickt, da bist du ja ein richtiger Spätstarter?«

»Na, nicht so laut, du bist ja was peinlich. Sag ein anderes Wort dafür.«

Christian schaute besorgt um sich, aber keiner interessierte sich für die beiden.

Soldaten waren ein gewohntes Bild im Ort, ein gern gesehenes Bild.

Wolfgang wurde nach dem dritten Bier und Kurzen tatsächlich väterlich und kam wieder auf das Thema Frauen zu sprechen, ansonsten redete er eigentlich nur über Autos, Autos und noch mal Autos.

»Pass auf, mein Guter, das F-Wort ist überhaupt nicht ordinär, manche heißen sogar so. Es ist alles nur eine Frage von Ort, Zeit und Umstand, wie man sich bei den Frauen ausdrückt und überhaupt. Zum Beispiel, wenn du ein Mädchen schon länger kennst, Kino, küssen, lange Gespräche, laber laber ... und du sagst dann zu ihr, Schatz, ich möchte mit dir schlafen, dann sagt sie enttäuscht: Aber ich bin doch gar nicht müde ... Gut, sagst du, dann lass uns Liebe machen. Ja, und dann vielleicht noch in Tüte verkaufen, wie?«

Wolfgang steigerte sich im Ton und beugte sich dabei weit über den Tisch.

»Wenn du aber zu ihr sagst: Kleines, ich mag dich und würde jetzt gern mit dir in die Kiste springen und dich so richtig durchnehmen, dann gibt es keine Irrtümer. Entweder sie sagt dann: Oh, ich kann das nicht, ich bin eine katholische Schwesternschülerin oder sie sagt: Das wurde aber auch Zeit. Ich dachte, du fragst gar nicht mehr und jetzt komm, denn rein muss er und wenn wir beide weinen.«

Wolfgang lachte lauthals, besonders über Christians doofen Gesichtsausdruck. So kannte Christian seinen Kameraden gar nicht. Im Objekt wirkte er eher zurückhaltend und verschlossen. Er machte im Dienst nur so viel, wie er unbedingt musste, in diesem großen Kindergarten Armee und mit 120 Mark Wehrsold konnte er seine Familie zu Hause kaum unterstützen.

Christian empörte sich aber nicht wirklich.

»Wolfgang, du bist schon fast zehn Jahre verheiratet und dann redest du so ordinär? Das hätte ich nicht von dir gedacht.«

»Pass auf, mein Kleiner, jetzt werde ich dich mal aufklären. Eine Frau muss drei Weiber zugleich sein und das ist auch nichts Neues.« Er zählte mit den Fingern auf. »Erstens: Im Haushalt die perfekte Köchin. Zweitens: Inder Öffentlichkeit eine Dame und drittens: Im Bett eine Sau. Bei diesen Qualitäten würde ein Mann sein Leben lang nicht fremdgehen. Ich habe so ein Glück mit meinem Mädchen, sage ich dir. Genau das alles wartet, hoffentlich, zu Hause auf mich. Auch wenn Leipzig heute, morgen und viele übermorgen meilenweit entfernt bleibt.«

Wolfgang schaute bei den Worten schmachtend an die verräucherte Decke des Gastraumes, als könnte er dort die Kilometer bis nach Hause ablesen. Er bekam ganz glasige Augen dabei.

Christian meinte zustimmend: »Ja, ja, du hast es gut, ich werde wohl niemals solch eine tolle Frau bekommen, wie du sie hast. Im November fange ich als Seemann an zu arbeiten. Als Maschinenhelfer, so heißen die Jockelputzer an Bord, und einzig das Meer ist dann meine Geliebte.«

Gegen dreiundzwanzig Uhr füllte sich die Kneipe bis auf den letzten Platz. Nebenan aus dem Tanzsaal dröhnte laute Tanzmusik.

Christian wusste, wenn er auch nur noch einen Schluck Alkohol trinken würde, gleich welcher Art, vollzöge sich bei ihm die Trennung von Körper und Geist. Wolfgang ließ ihn schon seit geraumer Zeit allein am Tisch sitzen, bestimmt, um getrunkenes Bier wegzubringen, er kam ewig nicht wieder. Er machte sich langsam Sorgen um seinen Kumpel. Wo blieb er denn nur?

Kurz entschlossen stand Christian auf, er schleppte sich in Richtung Toilette. Bis zum Klo kam er aber nicht. Irgendwo dazwischen sprach ihn ein junges wunderschönes Mädchen mit viel Po und Busen an. Sie roch streng nach Bier, aber vielleicht lag es auch nur an der bierschwangeren Umgebung in der Kneipe. Sie ließ ihn einfach nicht passieren. Ihre Stimme klang lieblich, aber fordernd.

»Soldat, wo willst du hin mit deiner schicken Uniform?«

Er wiegte sich trunken, wie er es von seinem OSL auf dem Bataillonsplatz gesehen hatte, über die Ballen und Fußspitzen rollend und meinte etwas lallend: »Schatz, wenn ich mein UFO in deine Tasse stecke, kocht das Wasser au... au... augenblicklich.« Sie antwortete, keineswegs verwundert: »Ich heiße Rosi und will auch gerade ein bisschen spazieren gehen und du kommst jetzt mit.«

Den Namen Rosi hatte Gertrud Kabala als Spitznamen von ihren Mithäftlingen bekommen, nachdem sie sich eine große rote Rose auf ihr Hinterteil hat tätowieren lassen. Gertrud gefiel dieser Kindsoldat mit dem hübschen Gesicht, und nach über drei Jahren Knast war das endlich mal etwas, was keine Brüste besaß und nicht viel fragte. Kurzerhand schnappte sie sich seinen Arm und führte ihn nach draußen, an ein stilles Plätzchen im Stadtpark. Sie war sehr erregt und völlig nackt kam sie mit ihm zusammen. Der weiche Waldboden sollte ihr Bett sein, nur der Mond schaute den beiden beim ausgedehnten und heftigen Liebesspiel zu. Später setzten sich Christian und Rosi erschöpft, aber sehr befriedigt und noch ziemlich besoffen auf eine Parkbank. Nicht weit von ihnen, im Licht einer Laterne, stand ein Ural vom TB 8 mit laufendem Motor.

 

Acht Tage später, an einem Sonntag, wurde Besuch für Christian ausgerufen. Einfach nur Besuch, nicht wer und nicht wie viele Personen. Christian dachte sofort an seine Eltern und freute sich auf das obligatorische Fresspaket. Frau Rabe machte sich ständig große Sorgen, dass ihr Sohn beim Dienst an der Waffe verhungern könnte. Auf der Stube jubelten dann auch alle anderen Kameraden und fielen über Mamas selbstgebackenen Kuchen und lecker gemachter Schlachtwurst her. Christian strich sich mit Spucke seine kurzen Haare glatt und ging zum Besucherempfangsraum, der Saalgröße hatte, so dass er trotz vieler Gäste und Soldaten nicht voll erschien. Christian schaute in die Runde, aber er konnte seine Eltern nicht entdecken. Plötzlich hielten ihm von hinten zwei raue Hände die Augen zu. Christian erschrak bis ins Mark, er packte die Hände und nahm sie von seinem Kopf. Er erschrak zum zweiten Mal, als er eine kleine dicke Frau vor sich sah.

»Wer bist du denn?«

Gertrud wich einen Schritt zurück und verschränkte empört die Arme vor ihrer immensen Brust. Sie trug ein braunes knöchellanges Baumwollkleid und sah aus, als sei sie mit beiden Beinen in eine Tonne gesprungen, nur noch der Kopf guckte heraus. Wo war ihr Hals? Er dachte: ‚Oh Gott, oh Gott, was habe ich mit der zu tun?‘ Aber dann kam sie, die Erinnerung, ganz langsam und immer heller werdend.

Christian fasste Gertrud widerwillig am fleischigen Oberarm.

»Komm, dahinten am Vorhang stehen drei freie Stühle, da setzen wir uns hin.«

Er schaute ihr ins Gesicht und sagte: »Schön, dass du mich besuchst, aber was immer ich getan oder zu dir gesagt habe, es geht nicht.« Er log. »Ich habe eine eifersüchtige Verlobte zu Hause.«

Christians Stirn glänzte schweißnass, sie saß wie ein Gespenst vor ihm. Er wartete die Wirkung seiner Worte ab und fand heraus, das sie immer noch diesen seltsamen Geruch an sich hatte, so wie abgestandenes Bier oder Kotze, leicht säuerlich jedenfalls.

Aus Gertrud sprudelten die Worte nur so heraus. In ihrem breiten blassen Gesicht befand sich direkt am rechten Mundwinkel eine kirschkerngroße Warze, die bei jeder Mundbewegung auf und ab wippte. Christian hätte sie am liebsten mit zwei Fingern gefasst und abgerissen, so, wie er das zu Hause mit den, mit Blut vollgesogenen, Zecken an den Katzen machte, zwar mit Ekel, aber er tat es, den Katzen zuliebe. Vielleicht saugte ja auch tatsächlich gerade jetzt eine schon fette Zecke an Gertruds voller Lippe und mochte bloß nicht abfallen

Rosi oder Gertrud schien nichts davon zu merken. Sie sprach schnell und aufgeregt mit piepsiger Stimme.

»Neulich Abend hast du mir so liebe Sachen ins Ohr geflüstert und meinen Körper überall gestreichelt. Geküsst auch, pass mal auf.«

Sie strich mit einer Schleuderbewegung ihr halblanges fettiges Haar beiseite.

»Hier hinten am Hals macht sich ein Knutschfleck breit von deinem Zuckermund, der ist heute noch zu sehen.« Entrüstet fügte sie hinzu: »Und ganz woanders habe ich auch noch ziemlich große Liebesmale von dir. Du hast gesagt, es macht dir nichts aus, dass ich schon zweiunddreißig bin und fast deine Mutter sein könnte. Auch nicht, dass ich schon mein halbes Leben im Knast verbringen musste. Ich werde nie wieder klauen und Assi sein, versprochen.« Stolz fügte sie hinzu: »Stell dir vor, ich arbeite seit meiner Entlassung in der Lübzer Brauerei, immerhin schon seit über drei Wochen. Bei den Flaschen bin ich, so saubermachen, weißt du und kaputte aussortieren. Du bist der erste Mann, der mich richtig gut behandelt hat. Wir können ja noch mal ausgehen, was meinst du?«

Christian kam das Ganze wie ein Alptraum vor. Streicheln, küssen von den Füßen bis zu den Lippen, wie ekelhaft. Dann sagte sie noch Brauerei? Na klar, daher der Gestank, sie roch nach Leckbier bis aus den Knochen. Ihn beschäftigte nur ein Gedanke, schnell weg von hier.

Er sagte: »Gute Idee, ich schreibe dir, wenn ich wieder Ausgang habe. Ob das mit uns etwas werden kann, weiß ich nicht. Ich habe mich auf einem Schiff beworben und kann da anfangen, am 10. November geht es los. So Rosi, ich muss jetzt aber...«

Christian schaute auf seine Armbanduhr.

»Ich habe Tischdienst. Du bist wirklich nett und so.«

Er klopfte ihr leicht auf die Schulter.

»Natürlich schreibe ich dir.«

Christian deutete mit der Hand ein Winken an. Hoffentlich sah das keiner von seinen Kameraden. Er drehte sich um und verschwand schnell.

Er sah sie nie wieder und nahm sich fest vor, in Zukunft ohne Frauen auszukommen.

Gertrud dagegen verließ voller Hoffnung und Glückseligkeit das Armeeobjekt. Sie mochte den Jungen sehr, der damals im Park mit seinen Lippen immer wieder ihre tätowierte Rose aus der Vase ziehen wollte. Sie wunderte sich nur, wie Christian, wie hieß er noch gleich mit Nachnahmen, ihr schreiben wollte, ohne Adresse von Zuhause. Zur Sicherheit gab sie ihre Anschrift beim KDL-Posten ab.

»Könnten sie bitte den Zettel in der 1. Kompanie abgeben?«

Eilig schrieb sie, das Papier auf dem angezogenen Knie haltend, dazu: Für meinen Gefreiten Christian.

»Ich habe seinen Nachnamen vergessen, aber wir lieben uns sehr.«

»Aber natürlich, gern«, sagte der Postensteher freundlich und warf den Zettel zerknüllt weg, da war Gertrud noch keine zehn Meter von ihm entfernt.

 

Endlich, der letzte Tag bei der Fahne. Christian trug schon seine ungewohnten Zivilsachen. Er verschenkte großzügig seine Haltespange für das Bandmaß am Alltag und das gedrehte Aluminiumfass für das Bandmaß am Sonntag den nachfolgenden EKs. Den letzten Zentimeter von seinem Bandmaß pinnte er versteckt an seinen Stubenschrank. Jetzt ging er daran, wie auch alle anderen EKs und schon Generationen vor ihm, einen Esslöffel aus dem armeeeigenen Besteckkasten mit dem Hammer breit zu schlagen. Dann wurde noch ein Loch von einem Zentimeter Durchmesser in die nun flache Löffelfläche gebohrt und mit dem Wertfachvorhängeschloss vom Stubenspind am Treppengeländer des Kompaniegebäudes angeschlossen.

Der Spruch ‚Somit habe ich hier für immer den Löffel abgegeben‘ sollte heißen, auf keinen Fall wiederkommen zu wollen.

Er sagte beim Verlassen des Objektgeländes zu sich: ‚Diesem Laden hier weine ich keine Träne nach. Alles, alles gute Jungs, ihr Tagesbatzen, auf nimmer Wiedersehen.’

Christian konnte damals nicht ahnen, dass er in Kürze in einem Betrieb mit ähnlichen Strukturen wie bei der Armee arbeiten würde.

 

 

3. Kapitel

 

Christian und das Meer, es sollte eine Freundschaft für immer werden.

Bevor er ein Schiff zu sehen bekam, musste er für drei Wochen zu einer Grundeinweisung nach Rerik an die Ostsee reisen. In einer eigenen Lehranstalt der Reederei wurde ihm dort alles Schiffstypische beigebracht.

Wozu dienen Rettungsboote, Arbeitsschutz, Feuerlöscheinrichtungen, und dann die neue Bordsprache. Viele Wörter hatte Christian noch nie im Leben gehört, es war alles so aufregend. Eine Pantry nannte man den Geschirrraum, wo Tassen an Haken von der Decke herunterhingen; eine Kombüse ist eine Küche, Pütz ein Eimer, Backbord ist in Fahrtrichtung gesehen links, alle Zahlen wie Kammernummern gerade und die Positionslampe rot. Steuerbord demzufolge rechts, Zahlen ungerade und die Positionslampe grün.

Auch gab es auf dem Schiff keine Treppen, die nannte man Niedergänge. Die Back war ein Tisch und die Koje ein Bett. Hinten bedeutete achtern und und und ...

Die Klassenstärke im Lehrgang betrug dreißig Mann, ein Drittel Frauen und zwei Drittel Männer. Christian wusste nicht, dass auch Frauen auf den Schiffen der DSR arbeiten. Sie saßen wie in der Schule in Bänken und schauten zur Tafel. Ihr Mentor Hans Warm, ein alter pensionierter nautischer Offizier, unterrichtete die zukünftigen Seeleute mit allem, was sie vom allgemeinen Schiffsbetrieb wissen mussten, und freute sich jedes mal diebisch, wenn er diese frisch geleckten Landeier in höchstes Erstaunen versetzen konnte.

 

Er war klein, untersetzt und kam an allen Tagen immer mit ein und demselben feingerippten Pullover an, der ihm schlabberig grau am Körper herunterhing, wahrscheinlich hatte er zehn Stück von derselben Sorte.

Hans konnte gut erklären und erzählen. Unbewusst schabte er mit zwei Fingern schnell über seine unübersehbare Wampe, wenn er schockieren wollte. »Früher«, so hieß sein absolutes Lieblingswort und wenn die Mädchen schwatzten, warf er zielsicher mit Kreide nach ihnen, »früher, meine Damen, kam nur an Bord eines Schiffes, wer im Stehen über die Reling pinkeln konnte. Stellt euch mal vor, das würde wieder eingeführt!«

Die Männer klatschten spontan Beifall.

Zum Wochenabschluss kam ein Arzt in die Klasse. Der hielt einen Vortrag von fürchterlichen tropischen Krankheiten und zeigte von diesen auch noch ekelhafte Bilder. Tripper war da noch das Harmloseste. Cholera, Gelbfieber, Skorbut, Syphilis, der Biss einer Bananenspinne, da ging es ans Eingemachte. Christians Entschluss stand fest, er würde sich vor Frauen und kleinen Tieren sehr in Acht nehmen müssen.

 

Die letzte Woche vor dem Einsatz war angebrochen. Hans Warm erklärte allen Anwesenden, wie sich eine Schiffsbesatzung zusammensetzte.

»Man muss sich das so vorstellen«, er schabte mit den Fingern über seinen Bauch, »wir denken uns eine Pyramide. Auf der steht ganz oben, über allem, der Kapitän, Richter und Regent zugleich. Was er sagt, ob richtig oder falsch, ist Gesetz auf dem Schiff. Kapitän kann man nicht lernen, dazu wird man berufen. Dann geht ein Schnitt durch die Besatzung. Wir teilen auf in nautische und technische Crew. Glaubt mir, da gibt es immer kleine Differenzen zwischen diesen beiden Lagern.«

Er kratzte sich wieder schnell und führte weiter aus.

»Nach dem Kapitän kommt der Erste Nautische Offizier, dann der Zweite, dann der Dritte. In der Maschine ist der Leitende Technische Offizier der Boss, erster Ingenieur, zweiter Ingenieur, dritter Ingenieur. Weiterhin ist sehr wichtig: der Funkoffizier, der unter anderem für eure Post und Telegramme zuständig ist und Landgangsdevisen auszahlt. Der Elektroingenieur fehlt noch und auf Kühlschiffen bilden zwei Kühlingenieure, die sogenannten Eisbären den Abschluss der Offiziere.« Er machte eine kurze Pause. »Dann kommt der nächste Teil der Pyramide, die Unteroffiziere.« Hans zählte auf: »Bootsmann, Storekeeper, Obersteward, Koch, Pumpenmann, Kabelgattmatrose, zuletzt der zweite Elektriker, der nur E-Mix genannt wird. Und weiter geht es an der Pyramide herunter, nun kommt der größte Teil der Besatzung, die Mannschaften, Vollmatrosen und Maschinenassistenten, Matrosen und

Maschinisten.« Hans Warms Stimme wurde dunkler, und langsam sprach er mit ernster Miene, in die Runde schauend: »Der letzte Rest seid ihr.« Er bemühte sich um einen abfälligen Ton. «Decksmänner, Maschinenhelfer, Stewards und Bäcker. Auf der ersten Seereise werdet ihr bei schlechtem Wetter vor den Mast gestellt und werdet bei schwerer See zuerst geopfert. Das heißt, wenn ihr euch gut festhaltet, verschont euch Rasmus vielleicht. Das ist der raubeinige Gehilfe von Neptun.«

Im Raum war es augenblicklich mucksmäuschenstill geworden.

Hans Warm fragte lauernd: »Und warum ist das so?«

Christian sagte spontan, aber kleinlaut: »Weil wir nichts wert sind?«

»Nein, nein«, betonte Hans. »So ist das ganz und gar nicht, aber ich sage es euch, so wahr ich hier stehe und zwanzig Jahre die Weltmeere befahren habe. Der Grund ist, ihr seid nicht getauft. Alle sind auf dem Schiff getauft und der Dampfer selber auch. Erst wenn ihr über den Äquator gefahren seid, das heißt, wenn ihr die nördliche Halbkugel verlasst und auf die südliche gelangt, kommt Neptun persönlich an Bord und gibt euch feierlich einen neuen Namen. Er befreit euch vom Schmutz der nördlichen Halbkugel, er reinigt gründlich Körper und Geist in einer feierlichen Zeremonie. Mir hat er dabei den Namen Haifisch gegeben.«

Bei diesen Worten hielt Hans seine Nase weit in die Höhe.

In Wirklichkeit wurde er damals auf den Namen Stichling getauft, aber das wollte er nicht sagen.

»Ja, erst dann seid ihr einigermaßen sicher vor Neptuns immerwährendem Zorn auf die Menschen.«

Er klatschte kurz in die Hände.

»So, und nun ist Schluss für heute. Morgen bekommt jeder sein Seefahrtsbuch und dann sehen wir uns noch ein paar Seekarten an. Jetzt ab mit euch auf eure Kammern. In einer Stunde ist Backen und Banken, soll heißen es gibt Abendbrot.«

Hans Warm freute sich diebisch auf jeden neuen Lehrgang. Es machte ihm riesigen Spaß, mit jungen Leuten zu arbeiten und ihnen ab und zu einen gehörigen Schrecken einzujagen.

 

Jedes Jahr waren es immerhin zwölf Lehrgänge und das würde mit ein wenig Glück bis zu seiner Rente so weitergehen. Hans Warm hatte die Flotte damals mit aufgebaut. Er gehörte als Decksmann auf der MS »Vorwärts« zur allerersten Besatzung, die für die neue Republik in Charter von Malmö nach Rostock Schnittholz fuhr. Dank dafür

wurde ihm nicht zuteil. Hans hatte sich vor Jahren mit dem MfS eingelassen und eine Bereitschaftserklärung als IMV unterschrieben. Das MfS konnte ihm nachweisen, dass er sich auf Ladungsreise nach Bremen absetzen wollte. DDR-Seeleute erhielten eine erstklassige Ausbildung. Er wollte damals als 2. NO bei der »Hamburg Süd« anheuern – alles war schon in Papier und Tüten.

Wie »die« das herausbekamen, würde Hans ewig ein Rätsel bleiben. So blieb ihm nur die Wahl: Zuchthaus oder andere ausschnüffeln. Also unterschrieb er. Bei den »Ledermänteln« hieß er seitdem nur noch »IM Pendler«.

Pendler galt als schlechter Informant. Auch in diesem Lehrgang konnte er keine auffälligen Personen benennen.

 

Der November machte seinem Namen alle Ehre: Sturm, Regen, Graupelschauer.

Der ganze Mix kam auf Christian zu, als er mit Norbert Berger auf dem Weg von der Schulungsstätte zum Bungalow »Möwe« mit eingezogenem Kopf lachend und scherzend um die Wette lief. Das lausige Wetter interessierte sie dabei herzlich wenig.

Mehr als drei Duzend kleine Ferienhäuser befanden sich im umzäunten Kiefernwald. Die Holzhäuser besaßen eine relativ gute Ausstattung: Einbauküche, Bad, Stube und Schlafraum mit Aufbettung. Sie standen sternförmig um das Hauptgebäude. Christian hatte sich mit Norbert angefreundet und mochte ihn von Anfang an. Norberts schlanker schlaksiger Körper maß mindestens zwei Köpfe mehr als Christian. Seine dünnen blonden Haare hingen ihm strähnig bis auf die Schultern herunter. Trotzig ließ er sie wachsen, obwohl ihm diese lange fettige Mähne überhaupt nicht stand. Norbert schimpfte über alles und jeden, so auch an diesem Abend. Er schloss die Haustür der »Möwe« schwungvoll hinter sich zu und empörte sich heftig über Hans Warm.

»Der spinnt doch, der Gartenzwerg. Opfern vor dem Mast und so. Wie soll das wohl gehen, wenn ich im Maschinenraum arbeite?«

Christian prüfte kurz mit beiden Händen die Festigkeit seiner Matratze und ließ sich dann feixend auf seine Koje fallen.

»Na, ein bisschen Angst haste aber doch bekommen.«

»Ha, ha!«

Norbert klatschte in einem Stück der Länge nach ebenfalls auf seine Koje, die nur von zwei kleinen Nachtschränken von Christians Bett getrennt stand.

Er schaute zu Christian und sagte mit Ernst in der Stimme: »Lass uns versuchen zusammen auf einen Dampfer zu kommen, dann werde ich dir zeigen, wer von uns beiden eher Angst hat. Außerdem, du Penner, mag ich dich, also lass uns den Ozean bis zum Arsch aufreißen und dann jagen wir Neptun und Rasmus, oder wie die alle heißen, über den Meeresgrund bis in meinen Dorfteich zu Hause.«

Norbert schlug ausgelassen mehrmals mit dem Kopf auf sein Kissen. Er richtete sich halb auf und fragte mit zerzaustem Gesicht: »Was ist, machst du mit?«

 

Am nächsten Morgen bekamen alle in der Klasse große Seekarten, die wie Schnittmusterbogen aussahen. Klaus Warm gab sein Bestes, um den Lehrgangsteilnehmern Seezeichen und Fahrrinnen zu erklären, als ein groß gewachsener Mann ohne anzuklopfen den Raum betrat. In seinem schwarzen Anzug wirkte er wie ein Angestellter von einem Bestattungsunternehmen. Er ging schnurstracks auf Hans Warm zu und flüsterte gestenreich mit ihm. Dann wandte er sich an die Klasse, legte seine Hände auf den Rücken und begann langsam mit angenehmer sonorer Stimme zu sprechen.

»Hallo allesamt. Mein Name ist Harry Thiel. Ich bin Einsatzleiter für Mannschaften im Flottenbereich Spezial. In Zukunft werden wir des Öfteren miteinander zu tun haben. Jetzt aber brauche ich sofort zwei Maschinenhelfer für die MS Brinckmann. Das ist ein Bananenjäger, der sonst nicht auslaufen kann. Ich habe gerade mit Herrn Warm gesprochen. Ihr habt bereits alle erforderlichen Qualifikationen erreicht und ausnahmsweise geht das schon mal.«

Hans nickte zustimmend, seine sonst so eifrige Hand ruhte reglos auf seinem Bauch. Er fragte gut gelaunt in den Klassenraum: »Na, wer möchte freiwillig?«

Es dauerte keine zwei Sekunden, Christian und Norbert schielten sich nur kurz von der Seite an, dann rissen sie synchron ihre Arme hoch.

Harry zeigte sich sichtlich erleichtert. »Los, mitkommen! Ihr müsst heute noch anmustern, morgen zehn Uhr ist Auslauftermin, marsch, marsch Jungs.«

»Einen kleinen Moment noch.«

Hans Warm zog vorsichtig mit zwei Fingern eine Ansichtskarte aus seiner ledernen Aktentasche und fragte in den Raum:

»Kennt jemand von euch eine«, er kniff seine Augen und hielt die Karte hoch ins Neonlicht der Deckenlampen, »Gertrud Kabala? Die Karte wurde ohne Namen vom Transportbataillon Karow nachgeschickt. Die Dame ist im dritten Monat schwanger und möchte den Erzeuger ihres Kindes näher kennen lernen. Ich hänge die freudige Nachricht an die Infowand. Euch beiden wünsche ich allzeit gute Fahrt und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel.«

Hans hatte wohl mitbekommen, dass Christian Rabe bis unter die Haarwurzeln knallrot anlief. Aber er interpretierte die Röte falsch. Er dachte: Genauso wie bei mir damals, Aufregung pur, ein neues Schiff zu betreten oder wenn sich die Tür zum Puff öffnet.

 

Innerhalb von fünf Minuten packten die beiden ihre Sachen. Christian und Norbert verstauten die Koffer und Taschen in den Kofferraum des Lada. Harry Thiel schlug die Klappe schwungvoll zu.

»Ihr habt Glück, Jungs. Ich begleite euch beim Lauftag. Wir fahren jetzt zum Überseehafen, zur Bekleidungskammer und zur Musterstelle und dann ab mit euch an Bord.«

Christian fragte zögernd: »Wo geht die Reise hin, Herr Thiel?« »Ja, natürlich, ist ja auch wichtig. Ihr habt einen Ladehafen in Ecuador, und zwar Bolivar, Weihnachtsbananen laden für zu Hause, das heißt, gelöscht wird in Rostock. Ist doch o.k., oder?«

Harry fuhr zügig. Er wollte die beiden Neuen so schnell wie möglich loswerden. Selbst um solch kleine Fische musste er sich selber kümmern. Ein Kreuz war das, die Besatzungen zusammen zu bekommen, und für alle Mannschaften stand er allein in der Verantwortung. Da kamen immerhin zehn Kühlschiffe, sechs Tanker und über zwanzig Schüttgutdampfer zusammen. Noch vor zwei Jahren fuhren sie mit eigener Flotte unter dem Namen Deutfracht Seereederei, aber alles musste ja zusammengelegt werden. Jetzt gehörten sie zur Deutschen Seereederei Rostock und hießen nur noch Flottenbereich Spezial. Der Schock, mit den ganzen »Kistenfahrern« unter einen Hut gesteckt zu werden, war lange noch nicht überwunden.

Harry versorgte sich intern ein bisschen selber bei den Seeleuten. Wer von ihm einen guten Dampfer bekommen wollte, brachte ihm nach der Reise Zigaretten mit – eine Stange PEER 100, die rauchte er gern; oder eine Montana-Jeans.

Die beiden im Auto würde er sich noch ein Weilchen ansehen. Aber irgendwann stellte ihm fast jeder eine Plastetüte mit Füllung so ganz nebenbei an den Schreibtisch. Nach dem Motto , wie du mir – so ich dir.

 

 

4. Kapitel

 

Nein, nein! So hatte sich Christian die christliche Seefahrt nicht vorgestellt. Sollte er jemals heil nach Hause kommen, würde er sofort für immer von Bord gehen. Wie konnte ein normaler Mensch das bloß aushalten?

Der Dampfer, die MS John Brinckmann befand sich im Atlantik inmitten der Biskaya, dem größten Schiffsfriedhof aller Weltmeere. Der Bananenjäger stampfte schwerfällig mit »voraus, ganz langsam« durch die haushohen Wellen. Immer wieder schlug das Schiff rollend in ein riesiges Wellental und legte sich dann heftig bis dreißig Grad neigend auf die Steuerbordseite. Es schob sich dann langsam wieder gerade, um dann mit ebensolcher Heftigkeit dreißig Grad nach Backbord zu kränken. Das Naturspektakel wiederholte sich immer und immer wieder.

 

Nachts um 01.00 Uhr versuchte Christian sich zum hundersten Mal in seiner Koje zu verkeilen, leider vergeblich. Die Kojenlampe über seiner Schlafstatt brannte grell. An ein paar Stunden Schlaf konnte er schon seit Tagen nicht mehr denken. Wie in einem großen Sarg kam er sich in seiner kleinen Kammer vor. Die stählerne Panzerblende musste er fest mit mehreren Vorreibern vor sein einzigs Bullauge schrauben, damit die schwere See nicht reingucken konnte. Der Wachmatrose hatte vor dem schlechtem Wetter peinlich genau kontrolliert, ob alle Bullaugen auf dem Dampfer mit Blenden dichtgesetzt waren, besonders auf dem unteren Deck, das sich nur wenige Zentimeter über der Wasserlinie befand. So manch ein Kahn ist schon zweitausend Meter nach unten abgeschmiert, weil das Meer mit unglaublicher Kraft das dicke Glas von einem Schiffsauge zertrümmerte und die Fluten dann genügend Raum besaßen, gierig in das Schiff zu strömen und es womöglich zu zerstören.

Christians Kammer befand sich ebenfalls dicht über der Wasserlinie, seinem Nulldienstgrad entsprechend. Direkt unter seinem Kammerfußboden dröhnte der Hauptmotor des Schiffes. In seinem spärlich eingerichtetem Wohnloch stand die Koje quer zur aufklappbaren Backskiste, darüber befand sich das Bullaugen. Ein Kleiderschrank quetschte sich gleich hinter das Eingangsschott und neben einem Waschbecken schloss sich eine Kommode mit vier Schubladen an. Das war die  Einrichtung auf insgesamt sechs Quadratmetern Wohnfläche. Den Regalinhalt mit Nippsachen und Gläsern verstaute Christian sicherheitshalber in eine Schublade, denn was er nicht sicherte, räumte die See gnadenlos ab.

In zwanzig Minuten musste er zur Wache aufziehen. Man hatte ihn zum 1. Ing. zur 4/8-Wache eingeteilt. Norbert schob in der 0/4-Wache Dienst. Sie sahen sich leider nur zur Wachablösung.

Den Maschinenraum konnte man mit gutem Gewissen als reinste Hölle bezeichnen, ein Mix aus Hitze, Lärm und Ölgeruch, einfach unerträglich. Trotzdem arbeiteten dort Menschen über mehrere Stockwerke mit aller Hingabe, um das Herz des Dampfers, die Hauptmaschine, seetüchtig zu erhalten.

Der Maschinenkontrollraum war der einzige erträgliche Ort und gut durch dicke Schotten vom Lärm und der Hitze der Hauptmaschine, den Jockeln, Pumpen, Separatoren und etlichen anderen Aggregaten abgeschirmt.

 

Christians Törn erstreckte sich jeden Tag von vier bis acht Uhr und von sechzehn bis zwanzig Uhr an sieben Tagen die Woche und dreißig Tagen im Monat. Christian beschäftigte sich seit dem Auslaufen des Schiffes mit der verantwortungsvollen Aufgabe, vier Stunden am Stück Dinge wegzuräumen, die andere liegen ließen. Seine Hauptbeschäftigung aber galt der Säuberung der Zylinderkopfstation. Das Zauberwort hieß »Farbe waschen«. Zwei Zehntel Fekamol, acht Zehntel Wasser in eine Pütz, ein Stück Rappeltuch und dann runter mit dem Dreck von Maschinen und Wänden. Einmal zum Wachende durfte er an die Luft, um den Inhalt der Pütz, ölige Putzlappen, über die Bordkante ins Meer zu entsorgen.

Daran war aber im Moment nicht zu denken, viel zu gefährlich. Das Hauptdeck durfte schon seit Tagen nicht mehr betreten werden. So stapelte sich der Dreck erst einmal in einer aufgebrochen Zweihundertliter-Öltonne.

Das Wort »Umweltschutz« kannte die Reederei nicht. Schließlich wurde das Meer schon immer als Abfalleimer benutzt, und das von allen Reedereien der Welt.

 

Der 1. Ing. Lutz Laasch nahm Christians Gehörschutzkappe ein wenig zur Seite und schrie ihm ins Ohr.

»Denk immer daran, Schmiermaxe, eine Hand für dich und eine Hand fürs Schiff und fass ja keine Schalter an. Wenn uns der Hauptmotor ausgeht, is’ empty. Du machst jetzt im gesamten Maschinenraum einen Rundgang, ob noch alles seefest ist. Fertigmeldung im MKR.«

Christian nickte. Beide entfernten sich in entgegengesetzter Richtung. Der Erste wartete einen Moment, bis sich der Dampfer einigermaßen gerade legte, dann rutschte er geschickt, nur auf Ellenbogen und mit angehobenen Beinen auf den Handläufen vom Niedergang der Zylinderkopfstation ein Stockwerk tiefer. Christian ging vorsichtig die vielen Niedergänge hoch bis zu den Skylights zum Anfang seines Rundgangs, enden würde dieser ganz unten in der Bilge.

 

Wie durch ein Wunder gab der Sturm nach und Sonne lag über dem Atlantik. Die Brinckmann durchpflügte mit voller Geschwindigkeit, nur noch leicht rollend, das Meer.

Der Alte ging nervös auf der Brücke von Backbord nach Steuerbord. Er war mit dem Chiefmate allein, den Wachmatrosen hatte er raus in die Backbordnock geschickt. Das Schiff steuerte mit eingeschaltetem Autopiloten den Kurs.

Kapitän Hannes Bock wandte sich an seinen lange vertrauten 1. NO Jürgen Saubermann.

»Wir haben viel Zeit verloren. Du weißt, Bananen sind ein Termingeschäft. Wenn wir nicht rechtzeitig in Bolivar sind, ist die Ladung weg. Wir müssen noch eine Kohle auflegen, dreiundzwanzig Meilen in der Stunde sind zu wenig. Scheiss auf Brennstoffeinsparung. Ich werde mit dem Chief reden.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ der Kapitän die Brücke.

Hannes Bock schaute auf seine Armbanduhr, es war sieben Uhr dreißig. Seine Frau schlief noch. Er durfte sie schon das zweite Mal mitnehmen. Die Reederei genehmigte ihre Mitreise, in Ausnahmefällen war das möglich. Das galt auch für alle anderen Besatzungsmitglieder, sozusagen als Auszeichnung für gute Leistungen.

 

Die Wohnräume des Alten konnte man fast schon luxuriös nennen. Als er vorsichtig in seine Schlafkammer schaute, schlief Uschi noch wie eine Tote. Sie hatte sich in den letzten Tagen die Seele aus dem Leib gekotzt. Jeder zweite Satz von ihr lautete »Wir werden alle sterben«. Zeitweilig nahm sie eine gallegrüne Gesichtsfarbe an und verweigerte jede Nahrungsaufnahme.

Einen Moment sah er seiner kleinen schönen Frau beim Schlafen zu. Sein ganzes Herz lag da vor ihm. Er kannte sie nur selbstbewusst und geradeheraus. Auch wenn es nichts zu sagen gab, stand ihr Mundwerk nicht still. Hannes konnte ihr aber nichts übel nehmen. Die wenige Zeit, die er mit ihr verbrachte, war einfach zu kostbar. Seeleute, die lange unterwegs sind, verlieben sich immer wieder neu in die eigene Frau. Ganz genau so erging es auch Hannes Bock in diesem Moment.

Er schloss leise das Kammerschott hinter sich und suchte den Leitenden Technischen Ingenieur auf.

Der Alte kam ganz gut mit ihm klar, obwohl die Leute aus der Maschine alle dachten, sie seien etwas Besseres. So etwa wie: »Ohne uns müsstet ihr rudern!«. Der Chief Walter Rohr liebte seine Maschine mehr als sich selber. Er legte seine Stirn in Falten und rutschte mit seinem Schreibtischstuhl ein wenig zum Alten herum.

»Maschine noch höher fahren?« Er sprach langsam und gedehnt. »Die ist am Ende der Fahnenstange.«

Er strich immer wieder sorgenvoll durch seinen dichten graumelierten Bart.

»Höchstens noch zehn Umdrehungen. Ich sage dir, die fliegt uns noch auseinander. Vom Brennstoffverbrauch gar nicht zu reden. Da ist dann an Einsparprämie für uns beide nicht mehr zu denken.«

Walter schob schulmeisterlich nach, den Kopf schief zum Alten drehend.

»Die Brinckmann, das alte Mädchen, hat immerhin schon vierzehn Jahre auf dem Buckel.«

Der Chief, ein wenig übergewichtig, stand schwerfällig von seinem Stuhl auf. »So, ich gehe jetzt frühstücken. Dann fahre ich den Bock noch ein bisschen höher, gut?« »Gut, gut«, antwortete der Kapitän. »Ich wecke erst mal mein Weib, komme dann auch gleich nach.«

 

Die Brinckmann befand sich am achten Tag der Reise immer noch im Atlantik. Von Tag zu Tag wurde es wärmer. Die Sonne brannte nun heiß und rundherum war nichts als Wasser. Die Erde ist nicht rund, sie ist ein nasser flacher Teller.

Nach dem Mittag standen Christian und Norbert achtern am Schanzkleid und beugten sich darüber.

Norbert sagte: »Guck dir mal das Schraubenwasser an, was für eine gerade Straße wir hinter uns herziehen.«

Nur in Ballast fahrend ragte das Schiff hoch aus der See und der Propeller schlug das Meer kurz und klein.

»Nicht schlecht«, meinte Christian, »so fix dahin zu fahren.«

Norbert drückte sich leicht vom Schanzkleid ab. »Guck mal, wie das Eisen vibriert. Daran kann sich ja eine ganze Frauentagsfeier befriedigen.«

Dann erstarb sein Grinsen. »Hans Warm hatte recht in der Schulung, wir sind wirklich das Letzte.« Er schimpfte. »Ich mache die ganze Zeit nur Drecksarbeit in diesem scheiß Keller. Hoch und runter im Maschinenraum, hol das, hol jenes. Ich habe vielleicht die Schnauze voll, sag ich dir. Der zweite Ing. ist der reinste Sklaventreiber, der fast vier Stunden mit seinem Assi im klimatisierten MKR am Kaffeesaufen ist. Ich kann den Kerl nicht ab und nach Schweiß stinkt der auch immer und das schon bei Wachbeginn. Ich glaub, alt werde ich in diesem Laden nicht, schon gar nicht mit dieser Schweißdrüse.«

Christian hatte nicht wirklich zugehört. »Sag mal, hast du den Aushang im Gang vor der Mannschaftsmesse gelesen? Die wollen eine Äquatortaufe machen. Fünf Besatzungsmitglieder stehen auf der Liste. Hast du unter deinem Namen schon unterschrieben? Ich ja.«

Christian wartete keine Antwort ab.

»Glaub mir, da wird auch mehr draus gemacht, als es ist. Ein Sturm im Wasserglas.«

Norbert schaute auf das selten glatte Meer. »An mir werden die sich die Zähne ausbeißen, ohne Wenn und Aber!« Er fasste sich an den Kopf. »Ich bezahle denen doch nicht mit meiner schmalen Heuer ‘ne fette Party.«

 

 

5. Kapitel

 

Eine leichte Brise empfing den Bananenjäger in der Caribik. Hier wehte immer ein warmer frischer Wind. Guadeloupe lag quer ab, als der Alte mit einem Teil der Mannschaft in seinem Behördenraum an der großen Back zusammensaß.

Kapitän Bock ergriff das Wort.

»Männer, eines sage ich euch, während der Taufe gibt es keinen Alkohol. Ich möchte nicht, dass jemand ernsthaft verletzt wird. Die Reederei toleriert die Äquatortaufe, macht aber keinen Hehl daraus, diesen alten Brauch lieber heute als morgen abzuschaffen. Es gab in der Vergangenheit einfach zu viele verletzte Seeleute.«

Sein glattes braungebranntes Gesicht strahlte, er wirkte sehr viel jünger als 56 Jahre. »Meine Dame könnt ihr aber trotzdem ordentlich rannehmen, die denkt doch tatsächlich, sie hat einen Sonderbonus. Und was das Haareabschneiden angeht, sage ich ja, das gehört einfach zur Taufe dazu, solange ich denken kann. Bei den Mädels aber bitte keine Glatze! Obwohl meine Frau umsteigen wollte auf einen Kurzhaarschnitt.«

Der Alte lachte, das Vorbereitungskomitee lachte mit. Der Bootsmann würde das schon machen mit seiner Gang.

 

Die Brinckmann hatte Glück. Schon bei der Ansteuerung an den Panamakanal wurde der Dampfer in den Passagekonvoi eingewiesen. Keine Reede, kein Warten. Die Festmacheramis kamen an Bord, und ab ging es in die erste von insgesamt drei Kammern der Gatun-Schleuse. Dann folgte die Pedro Miguel – und hin zum Pazifik die schönste von allen, die Miraflores-Schleuse. Zwischen beiden Ozeanen bestand lediglich ein Niveauunterschied von 24 cm, trotzdem mussten insgesamt 26 Meter Höhenunterschied überwunden werden. Das lag allein daran, dass man beim Bau des Kanals nicht durch das harte Bodengestein im Urwald kam und den natürlichen Gatun-See so hoch aufstaute, dass über die drei Schleusen diese enorme Höhe von fast dreißig Metern ausglichen werden musste, insgesamt eine technische Meisterleistung. Die etwa zwölf Stunden lange Kanaldurchfahrt von Küste zu Küste mit etwa 81,6 Kilometern Länge kostete der John Brinckmann und damit der Deutschen Demokratischen Republik immerhin 44.589,00 US$, und das selbstverständlich im Voraus.

 

Christian hatte seine Wache hinter sich und genoss ganz oben auf dem Schiff, dem Peildeck, in der Dämmerung die fremde Abendluft. Soviel konnte er gar nicht gucken, was es da alles zu sehen gab.

Schiffe ohne Gefahrengut durchquerten den Kanal meistens in der Nacht. Tanker und Fleischdampfer, so nannte man die Passagierschiffeinnerhalb der Besatzung, dagegen fuhren am Tag durch die Passage, einmal aus Sicherheitsgründen und zum anderen bezahlten Passagiere für die Urwalddurchfahrt und nicht dafür, sich den Mond anzusehen.

Christian war es egal. Endlich mal wieder Land sehen und dann die mit fremden Düften schwangere Luft, einfach herrlich. Er atmete tief ein und betrachtete das Schauspiel in der Schleuse.

Riesige Zahnradloks, sogenannte Mulis, postiert an Backbord und Steuerbord je vorn und achtern am Rand der Schleusenkammer trimmten die Brinckmann in die Schleusenmitte und hielten sie dort auch hartnäckig fest, obwohl diese großen grauen Loks in beängstigender Schräglage steil bergauf fuhren. Das geschah mit Stahlseilen, die um die Schiffspoller gelegt, an einer Winde in der Lokomotivmitte endeten. Die Lokomotiven konnten, und das nur in einer Schleuse, sechzehn Meter Höhe vom Atlantic in den Gatunsee mühelos überwinden, und das entsprach wiederum einer technischen Meisterleistung.

 

Auf der Brücke und im Maschinenraum war hektisches Treiben angesagt. Bloß jetzt keinen Blackout auf dem Dampfer. Das könnte zukünftige Passagen kosten. In dieser Beziehung galten die Amis als knallhart. Einmal als unzuverlässig auf die schwarze Liste gesetzt, bekam man,  wenn schon kein Durchfahrtsverbot, doch vorne und achtern zusätzlich einen Schlepper mit erheblichen Extrakosten hingestellt.

Mittlerweile war es stockdunkel geworden. Motten, Käfer und anderes unbekanntes Getier, manche so groß wie Spatzen, flogen in die Lampen des hell erleuchteten Schiffes, stürzten ab, um dann sofort wieder hochzusteigen zu einem neuen Angriff auf die Topplaterne und andere Sonnenbrenner an Bord. Die Brinckmann schlängelte sich ruhig mit »Voraus halbe« zwischen den vielen Inseln über den Gatunsee und der künstlich errichteten Wasserstraße, manchmal gefährlich nahe am Urwaldrand vorbei in Richtung Pazifik. Christian staunte mit offenem Mund und Blick in den viel zu nahen riesigen Sternenhimmel, die Luft war warm und kaum ein Lüftchen wehte. Seltsamer Vergleich, er kam sich vor wie unter einer Rotlichtlampe im Ferkelstall bei seinem Opa.

 

 

6. Kapitel

 

Am 7. Dezember 1975 um Viertel vor vier am frühen Morgen standen sechs Seeleute vor Christians Kammerschott. Der Bootsmann sprach leise.

»Jeder weiß, was er zu tun hat, ich möchte keinen Laut hören. Bei drei gehen wir rein, also los! Eins, zwei, drei!«

Der Bootsmann riss das Schott auf und schaltete die grelle Deckenlampe ein. Zwei Mann hielten Christians Arme fest, ein Mann legte sich auf seine Oberschenkel. Der im Tiefschlaf überraschte Seemann konnte sich nicht mehr rühren, ob er nun wollte oder nicht. Der Nächste rasierte ihm mit einem elektrischen Haarschneider genau in der Mitte vom Haaransatz fünf Zentimeter tief ins Kopfhaar. Jetzt bekam Christian auf der frei geschnittenen Stelle einen großen Stempel  aufgedrückt, der sich in tiefem Blau gut abzeichnete. Die Prozedur dauerte nicht viel mehr als dreißig Sekunden, dann schloss sich die Kammertür wieder.

 

Christian lag wie bedeppert in seiner Koje. Mit offenen Augen versuchte er in der Dunkelheit irgendetwas wahrzunehmen. Vorsichtig stand er auf und ging zum Spiegelschrank War das jetzt gerade ein Traum oder Wirklichkeit? Er knipste die Spiegelschrankbeleuchtung über dem Waschbecken an und schrak heftig zurück. Ungläubig betastete er mit zwei Fingern die glattrasierte Fläche auf seinem Kopf und den kleinen Dreizack. Die Stempelfarbe war noch nicht einmal ganz trocken. Christian wusste sofort, was das zu bedeuten hatte, es ging los.

Neptun und sein Gefolge befanden sich an Bord.

 

Die Brinckmann stampfte bei diesigem Wetter und spiegelglatter See durch den Pazifik. Rund um das achtere Windenhaus zwischen Luke drei und vier bauten die Seeleute auf dem Hauptdeck einen Parcours auf, der im Wesentlichen aus vier Stationen bestand. Fünf Klienten warteten derweil, eingesperrt im »Judentempel«, auf das nun Kommende. Sie saßen verängstigt auf dicken aufgeschossenen Festmacherleinen, angezogen mit nur zwei Kleidungsstücken. Mit mehr Sachen durfte kein Ungetaufter vor Neptun und seinem Gefolge untertänigst vorstellig werden.

Der Judentempel befand sich ebenfalls auf dem Achterschiff, noch weit hinter dem Windenhaus, und beherbergte eine kleine Last von zwei mal vier Metern als Stauraum für Leinen. Daneben gab es noch ein Schott zum Asiaten-WC, kurz Kanacker-Scheißhaus genannt. Unter diesen Aufbauten führte ein Niedergang in den Rudermaschinenraum zur Notruderanlage. Prägnant darin thronte ein riesiges Steuerrad aus Holz, das Ruder auf der Brücke war wesentlich kleiner.

 

Christian, Norbert, der E-Ing. Sebastian Klier, die Bäckerin Heike Saval und die Frau vom Alten, Uschi Bock, hockten gebückt und schweißnass auf den Seilen. Würden sie sich gerade aufrichten, stießen sie unweigerlich mit dem Kopf an die Decke. Im Raum herrschte schwüle unerträgliche Hitze, es war dunkel wie im Bärenarsch.

Lediglich diffuses Licht gelangte durch verdreckte Lüftungsschlitze an den Seitenwänden an Back- und Steuerbord in den Raum. Die Stimmung bei den fünf war mehr als gereizt.

Norbert, bedingt durch seine Körpergröße, fiel es am schwersten, ruhig sitzen zu bleiben. Er schimpfte.

»Die haben ja einen Vollschuss, uns die Haare so zu versauen. Ich habe in meinem Koffer mehr Shampoo als Klamotten und jetzt das.«

Er fasste sich bei den Worten an die kahl geschorene Stelle an seiner Stirn.

Alle fünf besaßen diesen Einschnitt weit ins Haupthaar, außer Uschi. Sie hatte ihren Stempel auf die Stirn bekommen, allerdings mit dem gleichen Szenarium wie die Jungs. Von diesem Schreck in der Morgenstunde schien sie sich immer noch nicht erholt zu haben. Sie fluchte mehr für sich alleine.

»Ich weiß nicht, da geht der Spaß zu weit, außerdem bekomme ich keine Luft mehr in diesem engen Loch.« Empört fügte sie leise hinzu: »Das ist gegen die Menschenwürde, was diese Barbaren hier mit uns anstellen. Wir sind doch keine Sklaven auf einer spanischen Galeere.« Mit fahriger Hand streifte sie über ihre Zöpfe. »Wenn die hier beim Friseur abgehen, dann nehme ich mir das Leben.«

Alle schwatzten durcheinander, ohne miteinander zu reden. Nur der E-Ing. sagte keinen Ton. Ohne Ankündigung begann er leicht zu würgen, um dann den größten Teil seines Mittagessens seitlich in ein Leinenauge zu spucken. Es hatte Hähnchen zu Mittag gegeben, man konnte es noch gut riechen.

Fast zur selben Zeit öffneten sich die Vorreiber des Stahlschotts. Vier kräftige Matrosen erschienen, nur leicht bekleidet mit kurzen Hosen und bunt bemalten Gesichtern. Sie schrieen alle gleichzeitig und schlugen mit ihren selbst gebauten Hanfpeitschen wild um sich.

»Was amüsiert ihr euch hier, ihr dreckiges Gesindel!«

Die Treiber zogen Norbert ruck zuck von den Leinen herunter und nahmen ihn mit. Dann schloss sich das Schott wieder mit Getöse. Nach einer Viertelstunde wurde er mit demselben Geschrei zurückgebracht. Norbert sah schlimm aus. Am ganzen Körper hingen alte Essenreste herunter, er stank fürchterlich.

Nass wie ein Pudel senkte er seinen Kopf zu den anderen hinunter und zeigte auf den misshandelten Schädel. Einmal längs und einmal quer waren seine Haare bis auf die Kopfhaut abgesäbelt, wie mit einem stumpfen Messer.

Norbert schrie wirklich wütend. »Wisst ihr, wie die Frisur heißt? Nein? Ich sage es euch. Der Schnitt ist dauerhaft zu empfehlen, er nennt sich Kreuz des Südens.« Norbert fiel in sich zusammen. Er strich mit beiden Händen immer wieder über seinen Kopf und begann lautlos zu weinen, seine Haare liebte er über alles.

Uschi war außer sich und wiederholte immer wieder: »Das ist gegen jede Menschenwürde, nein, nein, da mache ich nicht mehr mit. Ich will sofort raus hier.« Christian bekam gerade noch so viel Zeit, sich zu wundern.

»Sag mal, Norbert, eines verstehe ich nicht. Warum bist du eigentlich wieder hier? Ich dachte, wir können nach der Taufe zum Duschen?«

Norbert antwortete gehässig: »Ich glaube nicht, dass die Mädchen das hier überleben. Ich muss noch mal raus, war nur der Probeläufer.«

Als nächster bekam Christian die Peitschen der Treiber zu spüren. Auf Knien kroch er auf dem Hauptdeck vorbei an Luke vier, immer wieder über C-Schläuche kletternd, auf dem nassen Deck bis zur Luke drei. Das Hauptdeck wurde über die Feuerlöscheinrichtung bewässert, damit sich auf dem kochendheißen Eisen des Schiffes keiner der Probanden die Haut verbrannte.

Auf dem glatten Deckel von Luke drei saß auf einem geschmückten Sessel aus der Offiziersmesse der dickbäuchige Koch Neptun. Er hielt in einer Hand den Schiffsschlüssel und mit der anderen Hand drohte er immer wieder mit dem Dreizack. Neben ihm aalte sich die Jungfrau lasziv mit kurzem Kleidchen und Strapsen im Sessel. Der kleine E-Mix genoss die zu engen Frauenkleider sichtlich und richtete immer wieder seine Apfelsinenbrüste zurecht. Auf der anderen Seite von Neptun saß der Kapitän in Paradeuniform, der mit dem Schlüssel die Herrschaft über die John Brinckmann an den Meeresgott abgegeben hatte, zumindest solange, wie Neptun sich an Bord befand.

Neptun winkte Christian herrisch zu sich heran und begann würdevoll eine Rede zu halten. Wie wichtig und gut er sei, Herrscher über allem Getier in Seen, Flüssen, Sümpfen, Tümpeln und Ozeanen und nach gründlicher Reinigung von Körper und Seele sollte auch Christian dazugehören.

Neptun stand auf, bückte sich zu Christian herunter, der immer noch auf Knien lag und brüllte in sein Ohr.

»Merke dir gut, was ich jetzt zu sagen habe, denn ich mache diese Ansage nur einmal für dich. Sei in meinem Reich würdig für deinen neuen Namen. Du heißt ab sofort in allen meinen Gewässern Dorsch!«

Christian kam zur ersten Station, dem Friseur. Dazu musste er in ein Zweihundertliterfass steigen, das bis zum Rand mit alten Essenresten wie Heringsköpfen, Spaghetti und allem, was auf der Reise an Speisen bisher übrig blieb, gefüllt war. Christian hockte in der eklig stinkenden Tonne, nur sein Kopf schaute heraus. Mit einer Halskrause aus Holz war der Rest vom Gefäß abgedeckt. Der Schreiber fragte, was ihm denn eine einigermaßen gute Frisur wert sei. Christian spendierte eine Kiste Bier, der Schreiber verstand zwei Kisten und schrieb das in sein aufgeklapptes Buch. Dann tat der »Friseur« seine Arbeit. Er ließ recht geschickt eine Tapezierschere auf Christians Kopf tanzen, sodass die Haare kreuz und quer um die Tonne flogen.

Auf der nächsten Station untersuchte ein Arzt im weißen Kittel mit allerlei Werkzeug den Gesundheitszustand von Christian. Er verabreichte ihm verschiedene große Pillen; je kleiner, desto teurer. Christian schmeckte im Teig der Pillen nur den reinen Tabasco. Er lag an Beinen und Händen gefesselt auf der Arbeitsback der Deckswerkstatt vom Storekeeper.

Bei Christian hatte der Schreiber viel Arbeit.

Zum Abschluss der Untersuchung zog sich der Bootsmann Ole einen Gummihandschuh über, griff in einen Topf, gefüllt mit schwarzem Separatordreck und schmierte eine große Handvoll davon ausgiebig über Christians Hintern und seine Eier.

Doktor Ole ließ die angehobene Patientenhose wieder runter und sagte fachmännisch: »So, jetzt ist wieder alles blitz blank sauber. Der Nächste bitte!«

Den pechschwarzen Separatorschlamm würde Christian die ganze restliche Reise nicht von den Knochen bekommen.

Auch den »Henker« überlebte Christian einigermaßen. Jetzt, wieder angebunden an Händen und Füßen, aber stehend und mit dem Gesicht zur Wand, spürte er mit Wucht einen Pumpsauger, wie man ihn zum Reinigen von verstopften Toiletten benutzt, auf seinen Rücken knallen. Beim Abziehen des Gummis von der nassen Haut kam es Christian so vor, als würden seine Organe mit samt den Därmen herausgerissen. Das Schlimmste kam aber noch, der sogenannte Wassersack. Er bestand aus einem acht Meter langen Schlauch mit einem Durchmesser von achtzig Zentimetern, der aus Persenning genäht war. Man zeigte Christian einen rot glühenden Dreizack aus Stahl, der von einem langen Rundeisen gehalten wurde. Er musste rückwärts in den Wassersack hineinkriechen.

»Den bekommst du auf den blanken Hintern gebrannt, wenn du auf der anderen Seite wieder heraus kommst«, erklärten ihm der Pastor. »Aber vorher küsse meine Bibel.«

Der 2. Ing. klappte zwei Holzbretter auseinander, die wie ein Buch mit kleinen Scharnieren in der Mitte verbunden waren. Auf der linken Innenseite dominierte ein ausgefahrener Penis eines Pferdes die Ansicht, er war kunstvoll in die 6cm dicke Bohle geschnitzt. Christian allerdings musste die andere Seite küssen, eine ebenfalls ins Holz gefertigte, wunderbar hässliche offene Muschi.

Christian geriet in Panik, als ihm ziemlich in der Mitte vom Wassersack vorne und hinten Wasser aus C-Schläuchen mit voller Wucht das Krabbeln erschwerte. Er schluckte ohne Ende Seewasser. Endlich auf der anderen Seite angekommen, zog ihm jemand die Hose herunter und Christian fühlte das rote Eisen auf seinem Hintern, es roch nach verbrannter Haut. Ohne weiteres fiel er ohnmächtig auf die Seite wie ein mit Bolzen geschossenes Schwein.

In Wirklichkeit stempelten sie seinen Po mit einem tiefgefrorenen Dreizack und drückten zur gleichen Zeit dicht neben Christians Kopf die glühende Forke in eine Speckschwarte.Extreme Hitze und Kälte bereiteten kurzzeitig denselben Schmerz. Christian war schnell wieder fit und froh, auf diese miese Täuschung reingefallen zu sein. Wieder auf Knien vor Neptun angelangt, wusste er seinen neuen Taufnamen nicht mehr. Die nochmalige Nennung kostete ihn fünf Kisten Bier und eine Flasche Sekt für die Jungfrau, oder aber die ganze Taufrunde wiederholen.

 

Nach dem Duschen schaute sich Christian die Taufe von oben, ein Deck höher an. Gerade saß Uschi in der Tonne. Sie erbrach sich im hohen Bogen, hatte sich dann aber schnell wieder unter Kontrolle. Der Friseur nahm zum Schein einen ihrer Zöpfe in die Hand, schnitt aber in einen daneben gehaltenen Hanfzopf, den Uschi nicht sehen konnte, und ließ diesen zu Boden fallen. Uschi schrie laut auf und schaute wutentbrannt zu ihrem Mann auf der Luke.

»Schneidet mir den anderen Zopf doch auch noch ab, ihr Schweine! Von mir bekommt ihr nicht mal mehr ein schales Bier. Gegen jede Menschenwürde ist das hier.«

Der Alte lachte glucksend in sich hinein. Dabei fiel er beinahe nach hinten vom Stuhl vor Lachen, Neptun konnte ihn gerade noch festhalten.

Sich Tränen aus den Augen wischend rief er ihr zu: »Mensch, Mädel, bleib ruhig, das ist doch erst der Anfang!«

Aber er wusste auch genau, seine Frau stand das durch. Aufgeben kam für sie auf keinen Fall in Frage. Genussvoll betrachtete er seine schöne Uschi. Klatschnass und halb bekleidet, heftig diskutierend, stand sie mitten zwischen den jungen Männern, dem nächsten Unheil ins Auge sehend. Aber alles betteln nützte nichts, auch sie bekam vom Doktor die schwarze Paste über den nackten Hintern bis zum Bauchnabel geschmiert.

 

Während der großen Abendparty gab es für die fünf die ersehnten Taufscheine, reichlich Grillfleisch und Alkohol. Uschi drückte Norbert beim Tanzen fest an sich und lallte betrunken. »Das war ja wie Kinderkriegen, weißt du? Die Angst und der Schmerz sind schnell vergessen. Aber glaube mir, das nächste mal lieber Zwillinge als noch mal Äquatortaufe mit so einem Verein wie diesem hier.«

 

Am nächsten Morgen überquerte der Bananenjäger den Äquator. Wie aus dem Nichts flogen mit einem Mal große schwarze Vögel mit einer Flügelspannweite von bis zu drei Metern achtern über dem Dampfer – Albatrosse. Sie bleiben immer auf der südlichen Halbkugel. Es ist schon erstaunlich zu beobachten, wie die Vögel kreischend abdrehen, wenn der Dampfer wieder auf die nördliche Seite der Erde fährt.

 

Christian stand draußen an den Aufbauten neben der Kombüse und bestaunte die ihm fremden großen Vögel, die majestätisch, fast ohne Flügelschlag, über dem Schiff segelten. Es roch nach Land. Seine Vierstunden-Wache im Maschinenraum lag hinter ihm. Nun freute er sich auf das Einlaufen der Brinckmann in den Hafen Bolivar. Gerade passierten sie die Ansteuerungstonne, die Küste deutlich voraus sichtbar. Die Hauptmaschine ging auf Stopp und eine kleine Barkasse legte sich an Lee längsseits der Brinckmann. Über eine vom Bootsmann ausgebrachte Lotsenleiter kletterten die Einklarierungsbehörden von Ecuador und zwei Lotsen an Bord.

 

Oberstewardess Gisela Bundi trug schwer an einer Kiste Whisky »McDonnald« und drängelte sich  an Christian vorbei. Sie stellte den Karton an die Einstiegsklappe vom Schanzkleid neben der Lotsenleiter ab.

Die zierliche gutaussehende Gisela strich sich ihre Servierschürze glatt und sagte zu ihm: »Christian, kannst du mir die restlichen Kisten schnell mal hochholen, bitte? Es stehen noch fünf vor der Transitlast. Der Bootsmann stellt mir niemanden ab. Ich muss jetzt für die Behörden Kaffee schleppen und schwer ist mir das auch. Danke!« Gisela wartete keine Antwort ab, warf ihm einen kecken Kussmund zu und verschwand schnurstracks in den Aufbauten.

Tolle Wurst! Aber Christian war ja nicht so. Er holte eine Kiste nach der anderen vom Mannschaftsdeck ganz am Ende des Matrosenganges. Da lag sie nämlich, die viel geliebte Transitlast voll hochprozentigem billigem Wasser.

Nacheinander wurden die Whiskykisten an Tampen angebenzelt, langsam über Hand an der Bordwand weggefiert und in die Barkasse versenkt. Neugierig schaute sich Christian das Spiel über das Schanzkleid blickend an.

Er fragte: »Wo wollt ihr mit dem ganzen billigen Fusel hin?«

Ole erwiderte lange nichts, er schnürte die letzte Kiste ein. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass wir hier auch nur eine Banane laden, wenn von den Einklarierungsbehörden nicht jeder sein Duzend Flaschen Whisky bekommt? Der alte Spruch gilt hier und besonders hier, wie überall auf der Welt: Wer gut schmiert – der gut fährt.« Der Bootsmann grinste und schaute Christian freundlich an. »Alles klar, Seemann?«

 

Kaum hatte die Barkasse abgelegt, lief das Schiff in den kleinen Hafen ein.

Christian konnte sich nicht satt sehen. Vom Bootsdeck aus beobachtete er

Einbaumboote, die ausgerüstet mit großen Außenbordmotoren, absichtlich den Kurs der Brinckmann mit hoher Geschwindigkeit kreuzten. Pelikane saßen bewegungslos auf Dalben, die vielfach aus dem Wasser ragten. Ein alter Schlepper mittschiffs drückte die Brinckmann langsam gegen die Pier. Die Matrosen vorn und achtern auf den Stationen brachten durch die Schiffsklüsen armdicke Leinen aus. Sobald die Festmacher an Land das gespleiste Leinenauge über die Poller legten, zogen Winden auf dem Schiff den Dampfer dicht an die Pier. Schon vorher ausgebrachte Fender verhinderten, dass die Außenhaut direkt an der Kaikante schampfierte.

Besonders der Bootsmann mit seiner Gang, aber eigentlich die ganze Besatzung hatten ab jetzt drei Tage Vollstress. Das Schiff musste in kürzester Zeit ladebereit sein. Das hieß, Ladebäume zur Seeseite stellen, die vier Außenbordpforten zur Pier an allen vier Luken öffnen und rund um die Uhr mit Doppelwachen das Schiff sichern. Die Indianer würden sonst alles klauen, was nicht niet- und nagelfest war.

An den Niedergängen, außen zu den Aufbauten hoch, verhinderten Absperrungen

das Begehen von fremden Personen. Auch das Außenschott zum Eintritt in das Hauptdeck von der Seeseite war gut verriegelt und verrammelt.

 

Bald zweihundert Indios, die meisten waren Jugendliche, ja fast noch Kinder, tummelten sich scheinbar ziellos vorn und achtern auf dem Hauptdeck.

Längs der einzigen Hafenpier standen, wie an einer Schnur aufgefädelt, klapprige LKW wartend in langer Reihe, alle mit Bananen beladen. Die Fahrer lösten die Abdeckplanen und warfen große Palmenzweige, die als Kühlung dienten, von den Kisten achtlos auf die Straße. Norbert und Christian mussten an Deck Sicherheitswache gehen. Das war eine gute Gelegenheit, alles, was sich rund um das Schiff abspielte, zu checken.

Auf der Bordversammlung, noch auf See, mahnte der Alte die Besatzung eindringlich, die Augen offen zu halten und eventuelle Diebe nicht alleine festzusetzen. Ein Menschenleben zählte hier nichts.

 

Dann ging es los, an jeder Luke zugleich und alles im Laufschritt.

Lediglich eine fünfzig Zentimeter breite Bohle ragte von der Pier in die Pforten, zugleich zum Rein- als auch zum Rausgehen aus dem Laderaum.

Die Packer bewegten sich wie die reinsten Artisten. Jeder Jugendliche schleppte zwei Kisten Bananen übereinander gestapelt auf der Schulter in den Schiffsbauch. Manch ein kleiner Indio drohte unter seiner Last zusammenzubrechen. Immerhin befanden sich in jedem Karton 17,5 Kilo grasgrüne Chiquitas. Bis zum Abend zog nun diese Endlosschleife von laufenden Bananenkisten ins Schiff.

Insgesamt mussten 3870 Tonnen geladen werden und das würde noch eine Weile dauern. An jeder Pforte stand ein Vorarbeiter mit einem Zählwerk in der Hand und registrierte jede ins Schiff gebrachte Kiste. Neben den Pforten türmten sich auf der Pier Hunderte von aussortierten Bananenkisten samt Inhalt zu kleinen Bergen auf. Qualitätskontrolle, in Ecuador nannte man das so.

Eine solche Masse Bananen auf einen Haufen hatte Christian noch niemals gesehen. Leider konnte man die unreifen Dinger nicht essen. Nicht eine einzige Gelbe war dabei.

 

Christian und Norbert machten sich landgangsfein. Der Storekeeper Axel nahm sie nach dem Abendbrot mit in die Stadt. Er war schon öfter hier gewesen und kannte sich aus. Vorher ließ sich Christian vom Funker Dollars auszahlen. Pro Tag bekamen die Mannschaften neben ihrer normalen Heuer aus Nixwert-DDR-Alumark noch 3,50 DM (Offiziere 4,00 DM). Bis 20 Tage konnte jeder aufnehmen, also insgesamt 70 Mark gleich 35 Dollar, ein sogenanntes Bewegungsgeld.

Christian saß auf der Backskiste in seiner Kammer. Die ungewohnten Dollarnoten

in der Hand, drei Zehner und fünf Einer, brannten zwischen seinen Fingern. Immer wieder zählte er die grünlichen Scheine, aber es blieb bei 35 Dollar. Auf keinen Fall würde er beim Landgang alles ausgeben.

So steckte sich Christian zwei 10-Dollarnoten in seine Jeans, die fünf Einerscheine klein gefaltet in die ganz kleine Jeanstasche seiner Hose als Reserve. Die restlichen 10 Dollar verwahrte er sorgfältig in der oberen Schublade seiner Kommode. Um neunzehn Uhr sollte Abmarsch an der Gangway sein. Also höchste Zeit zum Aufbrechen.

Christian ging pfeifend die Gangway herunter, als der Bootsmann ihn schlecht gelaunt anfauchte.

»Eh, du Flöte! Auf dem Schiff pfeifen nur zwei. Das ist der Bootsmann und der Wind, verstanden?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Ole in den Aufbauten. Gerade hatten ihm die Einheimischen zum zweiten Mal den Tampen mit der Gastlandsflagge geklaut.

Christian machte sich nichts daraus, wenn es Mecker von den Decksaffen gab, hörte aber auf zu pfeifen. Er stand wartend an der Pier und schaute den fliegenden Händlern beim Einpacken ihrer ausgestellten Waren zu. Meist ältere Indiomänner versuchten unermüdlich, nahe der Gangway Holzschnitzereien, Ponchos, Teppiche, ziemlich echt aussehende Schrumpfköpfe und viele andere einheimische Dinge der Besatzung aufzuschwatzen. Christian sah, wie der Storekeeper und Norbert zugleich im feinen Zwirn die Gangway herunter kamen. Er erkannte den Storie kaum wieder. Sein sonst so zotteliger Bart war schön gerade geschnitten. Mit sauberer Jeans und knallbuntem Hemd, das ihm locker über seinen dicken Bauch hing, kam er grinsend auf Christian zu.

»So, Jungs, jetzt geht’s los! In den nächsten Stunden geht hier der Bär ab. Mir nach zur Tokio-Bar!«

Christian schaute Norbert fragend an.

»Ich dachte, wir sehen uns die Stadt ein bisschen an?«

»Los, los! Hier gibt es keine Stadt. Nur die Pier, ein paar Hütten und Mangrovenwälder, sonst nichts. Außer die Bar, und die ist spitze, weil rappelvoll

junger Weiber. In gut zehn Minuten sind wir da. Todo seguido – geradeaus!«

Norbert und Christian marschierten schulterzuckend kurz hinter dem stramm gehenden Axel. Norbert flüsterte seinem Freund ins Ohr: »So schnell voraus habe ich den dicken Sack bei der Arbeit noch nie gesehen.«

 

Axel fuhr schon seit über zehn Jahren zur See und sah aus, wie man sich einen Seemann vorstellte: groß, kräftig, zotteliger Bart. Außerdem soff er wie ein Kamel jeden an Bord mit Wodka unter die Back, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab.

Er begann einst, wie Christian, als Maschinenhelfer bei der Reederei und diente sich allmählich zum Unteroffizier hoch. Lange Jahre arbeitete er nun schon als Storekeeper auf der John Brinckmann, ohne wirklich aufzufallen. Deckswerkstatt, Maschinenwerkstatt, Drehen, Schweißen, Brennstoffe peilen und lagern sowie alles, was mit Wasserleitungen und Abflüssen zu tun hatte, machte der Storek. Mal nannten sie ihn auch Keeper oder den kleinen Chief. Dazu kam, das er sich mit dem Bootsmann die Ankerwache bei Revierfahrten teilte und beim Festmachen und Losschmeißen der Leinen bei sämtlichen Schiffsmanövern an der Backswinde stand. Er war nur dem Chief unterstellt und als Storekeeper und Person auf dem Dampfer geachtet. Axel kannte ganz genau seinen Stellenwert an Bord und fühlte sich manchmal unersetzlich.

Mit seinen zweiunddreißig Jahren war er immer noch unverheiratet und galt bei den Frauen als schwer vermittelbar. Nur auf dem Dampfer fühlte er sich zu Hause und musste schon so manches Mal vom Chief zwangsweise in Hafenurlaub geschickt werden. Axel galt als Frohnatur und umgänglich. Es hieß, mit ihm könne man Pferde stehlen.

Die Tokio-Bar zog ihn immer wieder magisch an. Er wusste selbst nicht mehr, wie oft er in diesen Sündentempel schon eingekehrt war. Auf jeden Fall viele, viele Male. Axel hoffte insgeheim und sehnsüchtig, Elvita wiederzusehen, die ihm mit ihrem südamerikanischen Temperament so manches Mal den Verstand rausvögelte.

 

Die plötzlich einbrechende Nacht leuchtete sternenklar mit vollem Mond zwei Strich über dem Horizont. Deutlich strahlte das Kreuz des Südens über den dreien, Dämmerung gab es so gut wie keine hier am Äquator.

Axel blieb tief durchatmend vor einer großen Jugendstilvilla wenige hundert Meter hinter dem Hafentor stehen. Sich viele kleine Schweißperlen von der Stirn wischend sagte er geheimnisvoll flüsternd: »So, Jungs, wir gehen da jetzt rein, ein paar Cerveza trinken. Seid nett zu den Mädchen«, er grinste wissend, »die machen das schon.«

Nach diesen Worten öffnete er die schwere alte fensterlose Eichentür. Sie befanden sich sogleich in einer großen Halle. Vor ihnen standen viele hölzerne Tische mit jeweils sechs Stühlen. Rechts zog sich ein alter abgewetzter Bartresen etwa zehn Meter im Halbkreis bis zu einer breiten Holztreppe hin, die aufwärts führend immer schmaler wurde. Links und rechts der mit einem dicken Teppich belegten Treppe schloss sich ein holzverziertes Geländer zu einer Galerie an, hinter der sich halb offen stehende Türen befanden, die in die Arbeitsräume der Mädchen führten. Eine junge Mulattin beobachtete, lässig über die Reling gebeugt, die Neulinge. Ansonsten befand sich niemand dort oben.

»Wir sind noch zu früh«, sagte Axel, unzufrieden in die Runde schauend.

Alle Tische waren noch unbesetzt. Lediglich an der Bar saßen auf hohen Holzhockern der zweite Ing. Peter Panikowski und der E-Ing. Sebastian Klier. Mit einer Bierflasche in der Hand sprachen sie angeregt mit der Barfrau.

Norberts Mine verfinsterte sich Augenblicklich.

»Neben den Idioten setze ich mich auf keinen Fall, das muss ich in meiner Freizeit nicht haben.«

Er meinte Peter Pan, wie alle an Bord den Zweiten Ing. nannten.

Sie nahmen am anderen Ende vom Tresen Platz, direkt an der Treppe, ohne die beiden zu beachten. Axel hob nur leicht den Kopf zum Gruß, der Zweite nickte grinsend zurück. Die Barfrau hatte Axel erkannt und kam freudig erregt angelaufen.

Sie sagte herzlich: »Don Axel, Buenas noches, que tal?«

Er beugte sich über den Tresen und küsste Camelita zur Begrüßung links und rechts auf die Wange. Dann antwortete er auf spanisch: »Es geht mir gut. Bring uns drei Bier. Wo sind die Mädchen, Dona Camelita?«

»Esta bien, tres Cerveza.«

Christian verstand kein Wort, er wandte sich an Axel. »Du sprichst ja perfekt

spanisch?«

Axel lehnte sich stolz auf seinem Hocker zurück. »Ach was, das ist nur Puffspanisch.«

Camelita kam mit drei Becks-Bier zurück. Sie sagte: »Perdon, un momento por favor, die Mädels kommen gleich!«

Ihr scheinbares Alter dürfte die Vierzig längst überschritten haben, schätzte Christian. Sie stand in einem langen bunten Kleid hinter dem Tresen. Ihre schwarzen Haare hatte sie hochgesteckt und aus ihrem weiten Ausschnitt schauten zwei große Brüste etwas zu weit hervor. Ihr stark geschminktes Gesicht versteckte nur unzureichend einen feinen schwarzen Oberlippenbart. Trotz ihrer freundlichen Augen erkannte jeder auf den ersten Blick, dass sie durch und durch Geschäftsfrau war und hier im Laden den Hut aufhatte.

Axel zog ein kleines Bündel Dollarnoten aus der Tasche und schob Camelita drei Dollarnoten über die Back. Sie säuselte mit gesenktem Augenaufschlag, auf seine Dollars schauend: »Muchas gracias, Axel.«

 

Nach und nach fand sich fast die ganze Besatzung in der Bar ein. Nur die Stewardessen verzichteten freiwillig und die Wachgänger durften nicht. Die Brinckmann lag als einziger Bananenjäger im Hafen und so wurde der Abend fast wie ein Bordfest an Land.

Dann kamen sie endlich, mehr als zwanzig sehr junge Frauen in kurzen Röcken betraten laut schwatzend den Gastraum. Ein vielstimmiges Hola und Buenos noches war kreischend und lachend zu hören. Dann verschwanden sie allesamt die Treppe hoch in die offenen Zimmer.

 

Axel wandte sich an Norbert und Christian. »Wenn die Senoritas zu euch kommen und ihr wollt keine Gesellschaft, dann sagt ihr: No quiro! Das heißt, ich will nicht.« Er grinste breit. »Aber das glaube ich nicht, ist ziemlich unwahrscheinlich. In der Hauptsache geht es hier nach Sympathie. Die Mädels suchen sich ihren Partner aus. Da haben die Männer so gut wie keine Chance, nein zu sagen.« Er tippte Norbert mit dem Finger an. »Besonders die großen blonden Deutschen mögen die Damen sehr.« Zynisch fügte er hinzu: »Nur schade, dass du deine Haare so kurz abgeschnitten hast, von blond ist da nicht mehr viel zu sehen.«

Norbert rollte nervös seine Bierflasche zwischen den Händen. »Du Witzbold hast doch auch Anteil an meiner Frisur und außerdem hau ich hier eh gleich ab. Mit meinen paar Dollars komme ich nicht weit. Oder glaubst du vielleicht, Christian und ich haben die Möglichkeit, kiloweise Messing an die Dingos zu verscheuern wie du.«

»Na, na, nun kein falscher Neid.« Axel hob seinen Kopf drohend in die Höhe. »Wer weiß, was du gesehen haben willst, mein Freund, du bist ja ein richtiger Schlauberger.« Zu Christian gewandt sagte er: »Eine Frau kostet zwanzig Dollar den ganzen Abend inklusive zweimal Sex. So, und wenn du dich nicht besaufen willst, kommst du mit zehn Dollar dicke für die Getränke aus. Ein Bier habe ich schon spendiert. Und glaub mir, es lohnt sich. Bleibt noch ein bisschen und genießt das hiesige Ambiente, das ist etwas anderes als das ewige Geschaukel auf unserem Dampfer.«

Christian wurde immer kleiner auf seinem Hocker. Für kein Weib der Welt kamen die beiden Zehner aus seiner Tasche, da war er sich sicher.

Dann tauchten die jungen Frauen umgezogen wieder auf. Einige lehnten über der Brüstung und taxierten von oben die Besatzung. Andere aber kamen wie die Grazien stolzierend in Arbeitssachen und hohen Stilos langsam die Treppe herunter. Die meisten der Gäste staunten mit offenem Mund und klatschten laut Beifall für so viel sichtbare Schönheit.

Christian erkannte sehr schnell, dass nur Norbert und er hier wohl die Neuen waren.

 

Elvita kam kreischend vor Freude auf Axel zugestürmt. Sie hatte ihn sofort erkannt. Er stand von seinem Hocker auf und nahm sie fest in seine Arme.

»Hola Que tal!«

»Hallo, ich grüße dich auch.«

Axel ging, ohne sich weiter um seine Kollegen zu kümmern, überglücklich mit ihr an einen freien Tisch. Sein Gesicht nahm plötzlich aus einem unbegreiflichen Grund einen vollkommen verblödeten Ausdruck an. Er hörte der schnell schwatzenden Elvita zu und himmelte sie an wie ein treudoofer Hund sein Herrchen. Christian fand, dass sie ein bisschen zu viel auf den Rippen hatte, aber sonst ganz passabel aussah.

 

Camelita dimmte den riesigen Kronleuchter im Saal dunkler und schaltete die spärliche Barbeleuchtung ein, lauter bunte Leuchtbänder. Aus der Musikbox dröhnte ABBA mit dem Titel »Fernando«, als sich zwei Mädchen dicht an Norbert und Christian drängten. Christian schaute seinen Freund fragend an.

Leise sagte er, zu Norbert gewandt: »Was machen wir nun. Wir mit unseren schwarz gefärbten Ärschen und kaum ein Haar auf dem Kopf? Ich fühl mich gar nicht wohl hier, lass uns abhauen, bitte.«

Norbert meisterte die Situation wesentlich besser.

»Da mach dir mal keine Sorgen, Chrisi Rabe. Wir trinken ein, zwei Bier und schaun dem Treiben hier ein bisschen zu. Und wenn du Lust hast, mit dem Mädchen gleich neben dir hoch in eines der Schließfächer zu gehen, machste eben das Licht aus beim Vögeln und dann ist es überall schwarz.«

Plötzlich rückten die jungen Frauen dichter. Eine kleine Hand legte sich sanft, kaum spürbar auf Christians nackten Unterarm. Er hielt die Flasche Bier auf dem Tresen erschrocken fester. Ein unglaublich schöner Schauer durchrieselte seinen Körper immer wieder bis in die Fußsohlen. Christian drehte seinen Kopf ganz langsam zu der Person neben ihm und schaute in große dunkle Augen, eingerahmt von langen samtschwarzen Haaren. Er roch ihren sauberen Atem, als sie sagte: »Me Llamo Palome, y como tu Llamo?«

Christian zuckte nur mit den Schultern, er verstand kein Wort Spanisch und sie kein Wort Deutsch. Die kleine zierliche Frau gab nicht nach. Mit ihrer freien Hand zeigte sie auf sich und sagte »Palome«, dann mit dem Zeigefinger auf ihn. Er hatte begriffen.

»Ich heiße Christian.«

Palome warf ihren Kopf lachend, schneeweiße Zähne zeigend, nach hinten.

»Buenas noches, Christian.«

Sie gab ihm einen Hauch von Kuss auf die Wange. Christian hatte sich auf der Stelle verliebt. Er sah Norbert mit seiner Bohnenstange nicht mehr, auch seine Kameraden nicht, alle waren weit weg. Am Ende des Abends auch seine Dollars bis auf den letzten Cent.

So wie sie kamen, gingen sie gemeinsam zurück zum Schiff. Norbert brach das gemeinschaftliche Schweigen.

»Also, meine Herren, ich dachte, ich hätte schon viel erlebt. Aber das heute Abend, das war der Ritt meines Lebens.«

Er schwärmte weiter.

»Oh, diese Schlampe, Ritas Ritze ist das Schärfste. Das nächste Mal tauschen wir, deine hat schöne dicke Titten, bestimmt 80C.«

Christian blieb ostentativ stehen. Im scharfen Ton sagte er: »Geh vor, verschwinde, dein dummes Gerede stinkt mich wirklich an.«

Axel nickte.

»Auch diese Mädchen haben ein bisschen mehr Achtung verdient.«

»Was wollt ihr bloß von mir?« Norbert tat maulig. »Morgen ziehen diese Damen die gleiche Nummer mit anderen ab und werden bezahlt dafür, das ist ihr Job. Gut, es hat verdammten Spaß gemacht, südamerikanisches Temperament, dunkler Samt auf weißen Laken, schön anzusehen. Aber sobald Rita mein Geld mit ihren zarten Finger schnappte, war auch ihre Freundlichkeit wie weggeblasen. Das ist und bleibt nur ein gefühlloses Geschäft, eben das älteste Gewerbe der Welt.«

Christian konnte und wollte dem nicht beipflichten. Obwohl er selbst genau wusste, dass es stimmte, was Norbert sagte. Trotzdem hoffte er, Palome wäre nicht so. Ein Stück ihrer Seele spürte er immer noch in seinem aufgewühlten Herzen. Nie, nie würde er diesen Abend mit Palome jemals vergessen

 

 

7. Kapitel

 

Kapitän Bock setzte sich schwerfällig an seinen Schreibtisch. Sein massiger Körper plumpste regelrecht in den Ledersessel, währenddessen las er mit krauser Stirn das ihm eben vom Funker gereichte Telegramm:

 

KAPITÄN BOCK PERSÖNLICH --- BETRIFFT --- REISEÄNDERUNG -

- NEUER LÖSCHHAFEN --- CORK IRLAND --- GENAUE ORDER

FOLGT AUF SEE --- DSR

 

Kursänderungen waren an sich nichts Ungewöhnliches. Die zehn Kühlschiffe der Reederei fuhren am liebsten im NSW und das zu absoluten Dumpingpreisen, der Devisen wegen, zum Ärger der »Hamburg Süd« und anderen Reederei, die für diese Preise nicht fahren konnten. Sogenannte Scouts der Firma grasten den Welthandel ab und klauten den anderen Reedereien Ladung, so viel es ging. Ausschlaggebend waren dabei die Lohnleistungen. Die DSR bezahlte ihren Seeleuten die Heuer in DDR-Mark und nur einen kleinen Teil in D-Mark. Mit dieser Niedrigheuer für gut ausgebildete Offiziere und Mannschaften besaß die DSR

ein unschlagbares Pfund gegenüber gleichwertigen Schiffen westlicher Reedereien. Die DSR-Dampfer fuhren so gut wie das ganze Jahr über in Charter.

 

Hannes überlegte, wie er das seiner Frau erklären sollte. Noch eine Reise mitfahren ging auf gar keinen Fall, blieb nur die Heimfahrt mit dem Flieger von Cork aus. Was für ein Theater, mit Rostock als Löschhafen wäre alles so einfach gewesen. Aber wozu brauchte die Heimat Bananen? Die können auch Äpfel essen, davon gab es genug in der Republik. So dachten jedenfalls die Genossen zu Hause.

Weihnachten fiel damit auch ins Wasser. Schöner Scheiß das alles. Na, da konnte Hannes zum Frühstück viel Neues erzählen.

 

Dicker Nebel, der sich nur schwerfällig aufzulösen begann, lag über dem Hafen Bolivar. Am zweiten Ladetag musste Christian ab zwölf Uhr mit einem Matrosen Wache gehen, der schon seit Indienststellung der Brinckmann zur Besatzung gehörte. Er hieß Karl Lübbe, ein richtiger Eigenbrödler, der jede Schraube an Bord kannte und in der Freizeit am liebsten alleine blieb. Er zählte vierzig Jahre, sah aber schon wie Fünfzig aus. Auf seinem Kopf befand sich nur noch ein schmaler Haarkranz, die Glatze leuchtete rot von der Sonne. In seinem Mund steckten kreuz und quer kurze schmale Zähne, zwischen die man bequem Bleistifte schieben konnte, wenn er wie jetzt schadenfroh lachte. Er schüttelte immer wieder seinen dicken Eierkopf und konnte kaum noch Luft bekommen, wenn er über die Ladekante von Luke zwei schaute. Er sah Christian, der mit dem rechten Fuß in einer Bananenkiste feststeckte. Als er ihn endlich herausziehen konnte, klebte eine braune Masse am Schuh. Christian steckte seinen Zeigefinger in das Zeug und roch daran. Angewidert drehte er seinen Kopf zur Seite und rief zu Karl nach oben: »Das ist ja gar kein Fett, das ist Scheiße.« Karl kippte mit dem Kopf auf den Lukenrand, er konnte nicht mehr.

»Ja«, stammelte er, »das riecht man bis hier oben.«

Karl kannte das. Ständig mussten die schon fast voll gepackten Decks der Luken von der Besatzung auf Stausicherheit kontrolliert werden. Unter jeweils fünf Schichten Bananenkisten kamen Staulatten gelegt, damit sich das Gewicht verteilt. Die Bananen würden sonst im Löschhafen als Mus ankommen. Da die Stauer während der Beladung nicht auf die Toilette durften, verrichteten sie ihre Notdurft unter anderem schnell mal in die Bananenkisten.

 

Zum Wachende wusste die ganze Besatzung von Christians Missgeschick. Der Buschfunk an Bord klappte ausgezeichnet. Besonders das Plappermaul Karl Lübbe schwatzte alles aus, wie ein Waschweib. Manchmal brachte er auch einfach mal aus Spaß ein paar Gerüchte auf.

»Von wegen, mit beiden Beinen hab ich in der Kacke festgesessen. Warum lügst du, Karl?«

Christian baute sich vor Karl auf und stellte ihn weiter zur Rede, der grinste ihn aber nur breit an.

»Wärste mal gestern Abend mit in die Stadt gekommen, da hättest du dich ganz anders amüsieren können. Aber dazu bist du ja zu geizig, du Vogel.«

 

Geduscht und umgezogen stand Christian später wieder auf dem Hauptdeck. Schlecht gelaunt schaute er über das Schanzkleid auf die Pier. Die Berge von aussortierten Bananen wurden immer größer. Zwischen den Haufen erblickte er ein junges Mädchen in Jeans und T-Shirt. Sie befand sich nur wenige Meter von der Gangway entfernt. Christian suchte ihren Blick und fand ihn. Er zeigte mit dem Finger auf sich, Palome nickte.

Im Gewirr des Ladebetriebs schaffte er es, sein Mädchen unbemerkt an Bord zu holen. Der Dampfer war schon so weit abgeladen, dass Palome ohne Schwierigkeiten von der Pier über die Reling auf das Schiff klettern konnte.

Christian stellte sie an das verschlossene Eingangsschott auf der Seeseite der Brinckmann. Er versuchte erfolglos, ruhig zu bleiben, der jungen Frau ging es nicht viel anders.

»Una Minuta!«

Christian amüsierte sich über sein perfektes Spanisch. Er stürzte in die Aufbauten, öffnete das Außenschott und schmuggelte Palome ungesehen in seine Kammer, mit klopfendem Herzen schloss er hinter sich ab. Geschafft!

Was er gerade tat, konnte ihm sein Seefahrtsbuch kosten. Solche Art Kontakte waren der Besatzung streng untersagt. Christians Interesse galt aber momentan etwas anderem. Sein Herz schlug Purzelbäume, unglaublich. Palome stand vor ihm. Auf ihrem Shirt leuchtete in grellem Gelb ein großer Schmetterling. Ein ebenso großer befand sich in seinem Bauch.

»Te quero - ich liebe dich.«

Die ganze Nacht kamen sie nicht voneinander los. Sie biss und kratzte, sie küsste und streichelte. Christian prägte sich jede Sekunde mit ihr ein. Acht Stunden pures Glück bis zum Weckerklingeln, wenn man nur die Zeit anhalten könnte. Unvergessliche Leidenschaft – die Leiden schafft.

Am frühen Morgen ging sie mit Tränen in den Augen von Bord. Was ihm blieb, war ein kleines Porträtfoto von ihr mit lächelndem Gesicht.

Auf der Rückseite stand in feiner Handschrift Palome Garcia, carretera del Sol 124 Bolivar, telefono 78451.

 

Mit »Voll Schiff«-Bananen dampfte die John Brinckmann am Abend aus dem Hafen von Bolivar. Am nächsten Tag informierte der Alte auf einer schnell einberufenen Bordversammlung unter anderem über den weiteren Reiseverlauf. Ausgesprochen schlechte Stimmung und hängende Köpfe im Raum, wohin er schaute.

Ole, der Bootsmann, wetterte laut und deutlich durch die Mannschaftsmesse.

»Hallo, ich brauch mal wieder ein paar Tage Urlaub. Ich bin schon über drei Monate an Bord und müsste mal raus aus dieser Tretmühle. Wieso eigentlich Cork? Wie sieht es insgesamt mit Ablösung aus? Das gibt’s doch nicht!«

»Ja, ich will auch Urlaub!«

Mehrere Seeleute sprachen munter durcheinander. Mit weiten Armbewegungen verschaffte sich der Alte Ruhe.

»Keine Aufregung, Seeleute! Jeder, der abgelöst werden möchte, kann das mitteilen. Maschinenbesatzung beim LTO und Decksbesatzung und Wirtschaft geht zum ersten NO. Wer dann wirklich nach Hause kann, das wisst ihr alle, entscheidet am wenigsten die Schiffsleitung, sondern wie immer unsere Reederei. Alles klar soweit?«

Nach einer kurzen Pause sagte er noch: »So, und jetzt ab an die Abendbrotback, ich habe Hunger und im Moment können wir sowieso nichts ändern.«

Hannes Bock schob seinen Stuhl nach hinten und stand auf. Er hatte selten genug seine Kapitänsuniform angezogen, um schon rein äußerlich Stärke zu zeigen und keine Meuterei aufkommen zu lassen. Aber das ging ja besser, als er dachte. Zufrieden stellte er fest: Die haben Gott sei Dank die Kröte geschluckt. Wenn schon nicht Weihnachten, so blieb wenigstens der Jahreswechsel als Trost, zu Hause zu sein. Aber auch das konnten die Jungs wohl vergessen, denn meistens kam nach dem Löschen noch eine Anschlussreise.

 

Der Donnerstag galt wie überall auf der Welt der Seefahrer als Seemannssonntag. So gab es, wie auch am eigentlichen Sonntag, ab halb vier Kaffee und Kuchen. Axel Peiper schleppte sich, schwerfällig gebückt gehend, in die Offiziersmesse. Er plumpste auf einen freien Stuhl neben dem 2. NO Harry Nebel, der an Bord auch den Arzt mimte. Harry fuhr schon seit ewigen Zeiten als 2. Nautischer Offizier zur See. Seine Beförderung zum Chiefmate konnte er vergessen, da er nicht der richtigen Partei angehörte und somit trotz seiner guten Arbeit an Bord immer wieder übergangen wurde.

»Wie siehst du denn aus?« Besorgt schaute Harry in das schmerzverzehrte Gesicht des Storekeepers. »Du bist ja aschfahl!«

Axel antwortete stockend: »Oh, ich halte das nicht mehr aus. Seit gestern habe ich plötzlich Bauchschmerzen, die immer schlimmer werden. Meine Fresse, was ist das bloß?«

Mit einer Flinkheit, die man Harrys pfundigem Körper nicht zugetraut hätte, sprang er aus seinem Sessel.

»Komm, steh mal auf und zieh das rechte Bein an!«

»Geht nicht.« Axel blieb gebückt stehen. »Geht wirklich nicht.«

»Alles klar, Junge, wird schon gut werden. Setzt dich kurz hin, ich gehe zum Alten.«

Der Kapitän schaute unentwegt auf den großen Radarschirm und schimpfte ungehalten.

»Bist du sicher mit deiner Diagnose?«

»Ja, ziemlich. Blinddarmentzündung vor dem Platzen oder Magendurchbruch, beides kann tödlich sein.« Besorgt fügte Harry hinzu: »Wir müssen schnell handeln, noch sind wir in der Karibik, ich kann ihm jedenfalls nicht helfen.«

 

Sechs Stunden später steuerte die Brinckmann den Hafen Nassau auf den Bahamas an. Auf der Innenreede machte der Dampfer Lee und Axel wurde in einem Drahtkorb mit Reisetasche in eine Barkasse weggefiert und den Behörden übergeben. Alles weitere übernahm die Deutsche Bermuda-Botschaft. Wohl angemerkt, eine gemeinsame deutsch/deutsche Botschaft!

Eine Stunde später lag Axel schon zur Blinddarmoperation auf dem OP-Tisch im Krankenhaus. Das schnelle Handeln vom Kapitän und 2. NO retteten Axel Peiper das Leben.

 

Am nächsten Morgen bestellte der Chief Christian zu sich in seine Kammer. Walter Rohr begrüßte ihn mit Handschlag. Christian setzte sich schüchtern auf den angebotenen Sessel. Er konnte sich nicht im geringsten vorstellen, was der LTO von ihm wollte. Der Leitende Technische Offizier drehte sich auf seinem Schreibtischsessel zu Christian und sprach ihn in der dritten Person an.

»Ihr habt auf der Werft in Wismar Rohrschlosser gelernt und einen Schweißerpass im Autogen- und Elektroschweißen. Stimmt das?«

Der Chief wartete keine Antwort ab, er wusste ja, dass es stimmte.

»Nach eingehender Beratung mit dem 1. Ing. habe ich festgelegt, dass Ihr ab heute kommissarisch den Storekeeperposten in der Musterrolle übernehmt.«

Nach einem kurzem Moment des Schweigens sprach er ruhig weiter.

»Ihr fahrt zwar noch nicht einmal einen Monat zur See, aber wir haben hier eine Ausnahmesituation. Laut DSRK, das ist unsere Deutsche Schiffsrevisions- und Klassifizierungsgesellschaft, muss an Bord ein Schweißberechtigter sein, und das seid Ihr als Einziger. Da Axel leider krank ist und nicht mehr auf dem Schiff sein kann, muss ... kurz gesagt, wir trauen Euch den Unteroffiziersjob zu. Außerdem will der Kapitän das so. Ich lege großen Wert auf eine genaue tägliche Brennstoffpeilung der Vorratstanks. Alle weiteren Einweisungen macht Lutz Laasch mit Euch. In Cork werdet Ihr dann wieder abgelöst und macht in der 4/8-Wache weiter. Natürlich bekommt Ihr statt H6 für die Zeit Heuer 11. Das ist alles, Ihr könnt gehen.«

 

Christian verließ wortlos und ungläubig dreinblickend die Kammer vom Chief. Mindestens acht Tage Storekeeper, was für ein steiler Aufstieg. Ihm konnte es egal sein, nur als Notnagel zu dienen. Christian stürzte die Niedergänge bis zum Hauptdeck hinunter. Das muss ich sofort Norbert erzählen, dachte er hoch zufrieden. Er betrat, nur kurz anklopfend, Norberts Kammer.

Sein Freund lag noch schlafend in der Koje. Mies gelaunt schaute der Geweckte blinzelnd auf seine Armbanduhr.

»Was, erst halb elf!« Norbert drehte seinen langen hageren Körper schwungvoll auf die Wandseite. »Hau ab! Zur Zeit keine Sprechstunde und außerdem habe ich in den letzten Stunden so gut wie kein Auge zugemacht, und gerade jetzt, wo ich ein ....«

Christian unterbrach seinen Freund im Redefluss und zupfte ihn kneifend an der Schulter.

»Stell dir vor, Nobi, ab sofort bin ich der Storekeeper auf der John Brinckmann für den kranken Axel, mindestens bis Reiseende. Ist das nicht cool?«

Norbert richtete sich verwundert in seiner Koje auf. »Na, Glückwunsch, du Glückspilz, andere brauchen dafür Jahre. Ich geh erst mal pissen.«

Entschlossen warf Norbert seine Zudecke beiseite, stand auf und schlurfte aus seiner Kammer. Christian kniete sich auf die Backskiste hin und schaute sehr zufrieden durch das geschlossene Bullauge auf die weite ruhige See. Er kniff die Augen zusammen, denn die Sonne spiegelte sich grell im Atlantik und blendete ihn. Die Hauptmaschine hämmerte gleichmäßig mit »Voll Voraus« deutlich hörbar unter dem Kammerboden – was für ein schöner Klang. Christian hätte jetzt und sofort vor Freude losheulen können.

Dann kam Norbert zurück in die Kammer getrampelt. Er stellte sich dicht vor Christian, der sich jetzt auf die Backskiste zurücksetzte. Norbert zog seine ein bisschen vollgepinkelte kurze Schlafanzughose bis zu den Knien herunter.

»Siehst du was?«

»Ja, na klar, du müsstest deinen Riesen mal zum Friseur schicken. Da unten hast du ja mehr Wolle als auf dem Kopf. Oder soll ich dir einen blasen?«

Norbert nahm kurzerhand seinen Penis in die Hand, schob die Vorhaut zurück und sagte: »Guck dir die Scheiße mal an, das brennt wie Feuer.«

Christian besah sich das riesige Teil genauer und meinte: »Der leuchtet ja roter als die Backbordlaterne. Wie hast du das denn hinbekommen, im Schraubstock eingeklemmt?«

Norbert antwortete nicht. Mit Daumen und Zeigefinger drückte er auf die Eichel, dabei kam ein kleiner glibbriger gelber Tropfen heraus. Christian schrak zurück.

»Geh weg! Du hast dir einen Tripper geholt. Fass mich ja nicht an, das Zeug ist hoch ansteckend.«

Norbert tobte. »Ich hab es gewusst, diese verdammte Sau, diese Hure von Rita hat mich angesteckt. Stell dir mal vor, gestern erwischte mich der 2. Ing. im Separatorraum, als ich gerade meine Schwanzspitze in die volle Dieselpütz steckte. Er dachte, ich will da reinpinkeln, der Blödmann schickte mich auch noch zum Klo. Mein Gott, gerade der Stinkefried, war mir das peinlich.«

»Du gehst jetzt sofort zum 2. NO und holst dir ein paar Millionen Einheiten Penizillin. Alles andere hilft da nicht und Diesel schon gar nicht.« Tröstend sagte Christian weiter: »Oder soll ich mitkommen?«

»Nein nein, schon in Ordnung, das schaffe ich auch alleine, danke. Aber wenn ich daran denke, wieder von zwölf bis sechzehn Uhr mit den beiden stinkenden Idioten da Wache zu gehen, wird mir ganz schlecht. Die Schweißdrüse ist genauso faul wie sein Maschinenassistent. Dann wird ja auch ausgerechnet immer in der Hundewache die Uhr gestellt. Auf der Hinreise waren das immerhin sieben Stunden voraus und heute Nacht bereits die dritte Stunde zurück.« Kleinlaut sagte er: »Glaub mir, ich bin am Arsch. Das gibt unendliches Gerede und vor allen Dingen Gelächter auf dem Boot.«

Christian klopfte ihm tröstend auf die Schulter, allerdings mit einigem körperlichen

Abstand.

»Nichtsdestotrotz, du bist mein Freund, Norbert, und wann immer du mich brauchst, ich halte zu dir, mit und ohne Tripper.«

 

Die drei Wachen hatten ihre bordeigenen Namen. So hieß die 00 bis 04 Uhr Wache Hundewache, die 04 bis 08 Uhr Starwache und die 08 bis 12Uhr Gesundheitswache.

 

Christian zog schnell um in die Storekeeper-Kammer ein Deck höher und wenn es auch nur für ein paar Tage sein sollte. Die Räumlichkeiten waren weitaus größer und ein eigenes Badezimmer besaß er nun auch, welch ein Luxus. Auf dem Schreibtisch lag ein riesiges Schlüsselbund, das Haupterkennungszeichen eines Storekeepers. Die Koje maß fast die Breite eines Doppelbetts und statt eines Bullauges befand sich über der Backskiste ein Schiffsfenster und nicht nur ein Waschmaschinenauge. Christian kam sich vor wie auferstanden aus einer Bretterkiste in ein Vier-Sterne-Hotel.

 

Um 16.30 Uhr wuchtete er eine Kiste Hafenbräu auf Luke 3 und sagte zu den umstehenden Matrosen und dem Bootsmann: »Das ist meine Einstandskiste als Storekeeper, haut rein, Männer.«

Die schon teilweise lange zur See fahrenden Matrosen zeigten sich erfreut über das Pilsbier, blieben aber skeptisch.

Ole ergriff schulmeisterisch das Wort. »Du hast noch die Finger krumm vom Koffertragen, pfeif hier ja nicht auf, sonst kommst du ganz schnell noch einen Kopf kleiner, als du eh schon bist. Augenhöhe mit uns, die musst du dir erst noch hart erarbeiten. Du weißt sicher auch, dass in der nächsten Zeit einiges mehr an Arbeit auf dich zukommt.«

Er mochte den kleinen Christian und öffnete sich während seiner Worte ein Bier mit einer zweiten Flasche.

»Heute Abend ist Bordfest und da grillt auf der Brinckmann immer der Stori, außerdem wäschst du einmal in der Woche die Arbeitswäsche für alle.«

Er hob drohend die Bierflasche.

»Glaube mir, wenn du den Jungs die Takelhosen versaust, bist du tot. Also auf keinen Fall zu heiß waschen und mach nicht soviel P3 in die Lumpen. Viel hilft nicht immer viel. Dienstag und Sonntag machst du noch den Filmvorführer, hoffentlich kannst du das alles. An der Ankerwinde, das zeige ich dir persönlich. Du hast jetzt nun mal einen wichtigen Posten an Bord. An Deck wie auch unten in der Maschine.«

Der Bootsmann klopfte dem frisch gebackenen Storekeeper mit seiner Pranke tröstend auf die Schulter. »Du schaffst das schon, alter Knabe.«

Die umstehenden Matrosen lachten schadenfroh, oder einfach nur so, weil der Bootsmann auch lachte.

 

Kitschig wie im Film, aber schön versank die Sonne rotglühend im Meer. Die ruhige See fraß den großen Feuerball immer weiter auf und schluckte ihn zum Schluss ganz runter, scheinbar für immer.

Rotglühend, mit weißer Asche überzogen, brannte auch das Feuer im großen Schiffsgrill. Christian machte sich daran, die hochzüngelnden Flammen unter Fleisch und Würsten mit Bier abzulöschen. Derweilen saß die wachfreie Besatzung an der großen Partyback auf dem Bootsdeck und wertete essend und saufend zum tausendsten Mal den Landgang in Bolivar aus. Norberts tropfender »Hahn« und Christians plötzlicher Aufstieg waren die angesagtesten Gesprächsthemen an diesem Abend. Es wurde getanzt und gelacht.

Die Stewardess Anne Holm, die in der Mannschaftsmesse bediente, holte ihre Gitarre und spielte ein kleines Solokonzert. Unter anderem sang sie perfekt »Morning has broken« mit Gänsehautgarantie. Um dreiundzwanzig Uhr verabschiedete sich der 2. Ing. schon ziemlich angeschlagen.

»Ich geh dann mal eine Runde schnell schlafen.«

Die 0/4-Wache besaß den Ruf, eine verdammt harte Wache zu sein.

Nicht nur deshalb verschwand auch Norbert gleich nach dem ersten Steak, das er nebenbei im Stehen bei Christian am Grill aß. Er trank so gut wie keinen Alkohol und nach Gesellschaft war ihm aus gegebenem Anlass auch nicht zumute.

 

Auch Christian blieb nicht mehr lange auf dem Partydeck, es zog ihn magisch in seine neue Kammer. Er hatte bereits alle satt gefüttert und seinen Grillplatz aufgeräumt. Uschi tanzte ausgelassen mit dem Alten. Christian sah den beiden einen Augenblick zu, bevor er sich in sein neues Appartement verholte. Der Wunsch, Palome in den Armen zu halten, fraß sich schmerzhaft in seine Brust, immer und immer wieder. Er kam gerade frisch geduscht aus dem Bad, da klopfte jemand leise an seinem Schott. Christian schaute verwundert auf die Uhr, wer konnte das jetzt noch sein? Er band sich ein Handtuch um die Hüfte und sagte: »Ja, herein!«

Die Bäckerin Heike Saval trat ein und setzte sich, vom Alkohol leicht schwankend, auf die Backskiste. Sie war von den anwesenden Frauen an Bord mit Abstand die Hässlichste. Ihre zu enge Jeans zerschnitt den Bauch in zwei Hälften. Der obere Teil quoll unter dem zu kurzen rosa Shirt hervor. Ihre großen Brüste hingen halterlos schwer nach unten. Das Schönste an ihr waren noch die makellosen Zähne. Ihr zu langer Kopf wandte sich unschlüssig zu Christian. Mit automatischer Gestik strich Heike sich mit beiden Händen zugleich die schulterlangen dunkelblonden Haare hinter die Ohren. Sie setzte sich gerade und hob entschlossen die Schultern.

»Also, pass auf! Ich besuchte auf der letzte Reise und bis vor kurzem mindestens zweimal die Woche den Storekeeper in seiner Kammer, ohne dass je einer von diesem ganzen Klatschverein, der da heißt Besatzung, etwas mitbekam. Kaum zu glauben, aber Tatsache, oder was denkst du?«

Christian antwortete nicht, peinliche Sekunden verstrichen. Dann machte Heike einen neuen Anlauf. Sie strich wieder mit gleicher Geste ihre Haare zurück.

»Unsere Buden liegen ja zufällig direkt nebeneinander. Da Axel ja nicht mehr da ist, wollte ich mal anfragen, ob die Besuchszeit auch für dich gilt?«

Christian blieb völlig überrascht jede Antwort schuldig. Er lag quer auf seiner Koje, den Kopf an die Wand gestützt und versuchte vergeblich der Situation Herr zu werden. Nach ewigen Sekunden stand die mindestens einen Kopf größere Bäckerin auf und setzte sich ohne weitere Ansage breitbeinig auf seinen Schoß. Sie nahm seinen Kopf in die Hände und steckte ihre nasse Zunge mit einer Heftigkeit in seinen Mund, dass Christian glaubte, ersticken zu müssen. Er setzte sich weder zur Wehr, noch machte er mit und direkt unangenehm war es ja auch nicht.

Sie sagte leise schnurrend: »Ich mag Storekeeper, auch wenn du jetzt gerade nach Steak und Bier schmeckst. So, ich gehe jetzt schnell duschen und keine Angst, ich bin in drei Minuten wieder zurück.«

Sichtlich erleichtert sprang Heike von der Koje, öffnete das Schott nur einen Spaltbreit und schlüpfte aus der Kammer. Sie zeigte sich wie immer gewohnt vorsichtig.

Nachdem Heike seine Kammer verlassen hatte, überlegte Christian schwer mit sich ringend, sein Schott einfach abzuschließen und sie nicht wieder reinzulassen. Er ließ die Tür dann aber doch offen und wartete nackend unter der Bettdecke liegend auf das Kommende. Die Überraschungen wollten einfach kein Ende nehmen. Er war schon am Einschlafen, da legte sich Heike zu ihm. Ihre wissenden Hände streichelten ihn überall, sie küsste seine festen Pobacken. Versauter tabuloser Sex folgte, wie Christian ihn noch niemals zuvor erlebt hatte. Wortlos und gut besucht schlich sie sich nach zwei Stunden Geschlechterkampf davon in ihre eigene Koje. Nur ihren lustvollen Geruch ließ sie in seinem Bettzeug zurück. Mit den Fingern unter der Nase

schlief Christian mit sich und der Welt mehr als zufrieden ein.

 

Der Dampfer zog gleichmäßig mit »Voll Voraus« eine eigene Straße durch die unendlichen Weiten des Ozeans.

Panikowski traf eine fatale Entscheidung. Seine Wache lag bereits eine Weile hinter ihm. Er trank noch beim Aufstehen aus seinem Kammersessel den letzten großen Schluck Weinbrand aus der Flasche, bevor er sie achtlos auf den Boden fallen ließ. Betrunken wanderte er durch das schlafende Schiff und blieb wie von alleine vor dem Kammerschott der Stewardess Anne Holm stehen.

Mit der Hand auf der Klinke wartete er einen Moment. Sie hatte ihm auf der Party schöne Augen gemacht und er bildete sich ein, das sie nichts Dringenderes brauchte als ihn. Zu Hause wartete seine Frau und die beiden fast erwachsenen Töchter auf ihn, aber das war ihm jetzt egal. Er öffnete die Tür ganz vorsichtig und trat ein. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Peter zog seine kurze Kakihose und sein Hemd aus und ließ die Sachen einfach auf den Boden fallen. Mit wenigen Schritten stand er vor Annes Bett. In dem Moment, als er sich neben sie legte, wurde Anne wach. Peter Panikowski war trotz seiner 45 Jahren schlank und sportlich. Er hielt ihr mit einer Hand den Mund zu, mit der anderen griff er ihr zwischen die Beine. Sie hatte nichts unter ihrem Nachthemd an. Anne begriff immer noch nicht, was der Kerl von ihr wollte. Wütend riss sie sich seine Hand vom Gesicht.

Sie schaffte es irgendwie, die über dem Kopfende hängende Kojenlampe anzuschalten.

Kantig, aber in einem leisen unmissverständlichen Ton sagte sie: »Panikowski, ... raus ... aus ... meiner ... Kammer, du altes Schwein, bist du verrückt geworden?!«

Er lag schwer auf ihr. Sie spürte seine Erregung und wie er ungeschickt versuchte, sich Einlass zu verschaffen. Anne hämmerte mit ihren kleinen Fäusten auf seinen Rücken. »Lass das jetzt, ich muss auf Toilette!«

Weil er es gewohnt war, wie bei seiner Frau zu gehorchen, ließ er los. Anne rutschte unter ihm heraus und flüchtete in Panik aus der Kammer direkt zur Oberstewardess, die ein Deck höher wohnte.

Giselas Wut nahm keine Ende.

»So geht das nicht, wir gehen zum Alten.«

Anne zögerte. »Es ist ja noch nicht viel passiert.«

Morgens um fünf Uhr standen die beiden Mädchen beim Alten vor der Tür und klopften, Anne hatte sich eine Decke um die Schultern gelegt.

Die Empörung des Kapitäns steigerte sich in kurzen Schritten, aber stetig.

Was da wieder von der Reederei auf ihn zukam, war noch gar nicht abzusehen.

Panikowski schlief seinen Rausch bis zum Frühstück in Annes Koje aus. Dann musste er alleine zum Alten. Er saß ihm mit hängendem Kopf gegenüber.

»Du weißt, dass ich den Vorfall ins Bordtagebuch eintragen muss. Nach der Reise kannst du dir mit Sicherheit einen Job bei den Landratten suchen. Das ist mir in meiner ganzen Seefahrt nicht untergekommen, was du letzte Nacht abgeliefert hast.«

Bei seinen Ausführungen stand der Kapitän, seine Hände auf dem Rücken gekreuzt haltend, von seinem Sessel auf. Er ging unruhig, aber auch ratlos im Raum auf und ab.

»Einer meiner Offiziere hat seine Notgeilheit nicht im Griff. Du kannst froh sein, wenn dich Anne Holm nicht anzeigt.«

Er wusste schon immer, Weiber an Bord bringen mit ihren Titten und zu kurzen Röcken nur Unglück.

»Tschuldigung, Kapitän. Ich weiß selber nicht, was mich geritten hat. Solch eine Schande darf einfach nicht passieren, ich werde meine Konsequenzen ziehen.«

Der 2. Ing. stand auf, ein um zehn Jahre gealterter Mann bewegte sich abwesend, in sich gebrochen, zum Kammerschott.

Er sagte in leisem Ton: »Wie ich das alles meiner Familie erklären soll, weiß ich auch noch nicht.«

 

Am nächsten Tag wurde die See schon rauer, die Biskaya kam immer näher und damit auch das schlechte Wetter. Die Bananenjäger galten eher als Schaukelschiffe als andere Dampfer, da sie nur einen verhältnismäßig geringen Tiefgang besaßen. Durch den flach gehaltenen Kiel konnten somit auch die unteren Lukendecks gut als Laderaum ausgenutzt werden. Infolgedessen lag der Schwerpunkt des Schiffes ziemlich weit oben.

Fast auf die Minute genau vierundzwanzig Stunden später nach dem ungeheuren Vorfall kletterte Peter Panikowski achtern über das Schanzkleid außenbords. Er stellte sich mit den Füßen auf den Wassergraben und schaute auf das Schraubengetöse unter sich. Die Hecklaterne über ihm verbreitete nur schwaches Licht. Der Dampfer stampfte leicht auf und nieder. Kindheitserinnerungen wurden wach. Sein Vater hatte ihm zum sechsten Geburtstag eine Wippe im Garten gebaut. Wild schaukelten sie damals hoch und runter. Manchmal blieb Vater einfach unten sitzen, dann schrie Peter, weniger vor Angst als vor Freude. Jetzt brauchte er nur noch loszulassen und alles war vorbei. Um diese Zeit vermisste ihn an Bord keiner. Überhaupt hatte er das Gefühl, von niemandem gebraucht zu werden, besonders zu Hause nicht mehr. Die beiden Töchter brachten selbst schon Freunde mit und sorgten sich mehr um ihre pubertären Pickel als um ihn. Selbst seine Frau Sonja zeigte nur im Beisein von Besuchern ihre früher so liebevolle Art: »Ich bin doch dein Schmusekätzchen.«

Nach fast zwanzig Jahren Ehe hatte sich ihre Kilozahl verdoppelt und sie sagte ihm unverhohlen ins Gesicht: »Ich habe keine Lust mehr, für dich die Beine breit zu machen. Irgendwie liebe ich dich noch, jetzt aber anders. Ich brauche keinen Sex mehr, höchstens einmal im Jahr, wenn überhaupt.«

Seine Familie hatte sich lange schon ohne ihn zu Hause eingerichtet und alle waren froh, auch Peter, wenn wieder ein Telegramm für die nächste Reise im Postkasten lag.

 

IMV »Springer« konnte nicht schlafen. Er stand rauchend auf dem Partydeck, als er den 2. Ing. im Schein der Toplaterne nach achtern gehen sah. Leise wie eine Katze auf der Jagd folgte er ihm. Er beherrschte es perfekt, immer im Schatten zu bleiben. Schon seit seiner Jugend arbeitete Springer für die Stasi. Ohne Gewissen schwärzte er jeden an. Er machte mehr, als er für Partei und Vaterland tun musste. Wobei ihn beides wenig interessierte. Springer ging es hauptsächlich um Macht über andere Menschen. Und natürlich ums Geld.

Springer zog sich aus einem zusammengebundenen Stapel Stauholz hinter Luke vier eine ein Meter lange und fünf Zentimeter dicke Latte heraus, dann trat er, sich noch einmal nach allen Seiten umblickend, schnurstracks aus dem Schatten des »Judentempels« hervor. Ohne einen Moment zu zögern, weit ausholend schlug er mit der Latte gegen die Brust des 2. Ings, der immer noch unentschlossen auf der Außenseite des Schanzkleides stand, bereit zum Absprung. Wie wachgerüttelt vom Schlag kam der 2. Ing. davon ab, sich umbringen zu wollen. Er schrie vor Angst und Schmerz.

»Du bist das, was soll das? Bist du verrückt geworden?«

Panikowski versuchte vergeblich, über das Schanzkleid zurück auf das Schiff zu klettern. Immer wieder holte Springer zum Schlag aus. Der Maschineningenieur blutete stark aus Platzwunden an der Hand und im Gesicht.

Springer sagte mit kalter klarer Stimme_ »Du hast dich entschieden, dann geh jetzt auch ohne lange zu jammern!«

Mit einem weit ausholenden Schlag, in den Springer sein ganzes Körpergewicht legte, traf er mit entsetzlichem Krachen Panikowski am Kopf. Blut spritzte aus einer großen klaffenden Wunde an der Stirn bis auf die Reling und in breiter Fläche über das Gesicht vom 2. Ing. In Zeitlupe ließ er torkelnd das Schanzkleid los und fiel ohnmächtig rücklings wie ein Brett ins Meer. Das schäumende Schraubenwasser deckte ihn sofort mit einer weißen Schlafdecke für immer zu.

 

Natürlich war die Schlafdecke eher ein todsicheres Leichentuch.

Springer atmete ein paar Mal tief durch, niemand hatte etwas mitbekommen. Das war wieder mal sein perfektes Verbrechen. In hohem Bogen warf er die Latte außenbords. Tief befriedigt schaute er konzentriert auf das Meer hinaus. Sein Blick suchte die weiß schäumende achterliche See ab, doch von »Pani« war nichts mehr zu sehen. Wie denn auch?

Langsam, ganz langsam senkte sich sein Adrenalinspiegel wieder.

Normalerweise ging er mit hoher Präzision bei Vorbereitung und Ausführung ähnlicher Aktionen vor. Diesen gelungenen Kick gerade eben bekam er gratis vom Zufall geliefert. Mit dem Zeigefinger rührte Springer in einem der vielen Blutflecke auf dem Schanzkleid und der Reling, dann leckte er seinen roten Finger langsam und genüsslich sauber. In spätestens zehn Minuten würde die Gischt des Schraubenwassers alle Spuren an Bord beseitigt haben. Diesen Gedanken mitnehmend drehte sich Springer um und schlich, wie er gekommen war, zurück in die Aufbauten.

 

Zur Mittagszeit machte die MS John Brinckmann einen Vollkreis und fuhr den gefahrenen Kurs mit »Voraus Halbe« zurück. Nach ausgiebiger Suche in jeder Ecke des Schiffes ging der Alte nunmehr davon aus, dass der 2. Ingenieur Peter Panikowski aus Scham außenbords gesprungen war, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Trotzdem meldete er über Funk an Heimat und andere in der Nähe befindlichen Schiffe »Mann über Bord«. Nach vierundzwanzig Stunden wurde die Suche ergebnislos abgebrochen. Was an Bord niemanden verwunderte, denn es war schon schier unmöglich, ein Boot ohne Peilsender wiederzufinden, geschweige denn einen Menschen, der in der Nacht wie unsichtbar nur mit dem Kopf aus dem Wasser ragte.

 

Anne Holm wurde als erste in Cork abgelöst. Sie musste sich in psychiatrische Behandlung begeben, da sie sich die Schuld am Tod von Peter Panikowski gab. Sebastian Klier stieg ohne Ablösung ab, auch er hatte irgendwo auf See einen kleinen Knall abbekommen. Der E-Ing. stand einfach mit gepackten Koffern an der Gangway und sagte dem Alten: »Entweder ich bekomme ein Ticket nach Hause oder ich fahre auf eigene Faust los. Ich halte es vor Heimweh nicht mehr aus, fertig und aus.«

Er durfte dann mit Uschi, der Frau vom Kapitän, von Dublin aus nach Hause fliegen. Alle anderen mussten für die Anschlussreise nach Kuba an Bord bleiben. Es wurden die Bananen gelöscht, Brennstoffe und Proviant gebunkert und nach zwei Tagen verließ die John Brinckmann den Hafen von Cork via Kuba. Vorher ging es aber erst noch auf Reede vor Anker, bis die fehlende Besatzung, der neue 2. Ing. Arno Strahl, der E-Ing. Gunter Schacht, Stewardess Silke Schubert sowie der Maschinenhelfer Gerd Grolz mit dem Lotsenboot an Lee beigebracht wurden und über die Lotsenleiter an Bord kletterten.

 

Christian war so ziemlich der Einzige an Bord, der ausgesprochen freudig der neuen Reise entgegen sah, denn er blieb nun für mindestens fünf weitere Wochen Storekeeper.