Marta unter Wölfen


Würden Liebe und Tod gemeinsam musizieren –

dann könnte Marta gut und gern ein paar Strophen mitsingen.

 

 

Das Ende am Anfang

 

 

Auftakt

 

 

Todesanzeige in der Rostocker Ostseezeitung

 

 

Dein ganzes Sein war nur Schaffen,
warst jedem immer hilfsbereit.
Du konntest bessere Tage haben,
doch dazu nahmst Du Dir nie die Zeit.
Nun ruhe sanft und schlaf in Frieden,
hab tausend Dank für Deine Müh,
wenn Du auch bist von uns geschieden,
in unseren Herzen stirbst Du nie.

 

 

Uns allen noch unbegreiflich verließ uns unsere herzensgute Mutti, Schwiegermutter, liebste Oma, Schwägerin und Tante

 

 

Marta Obst, geb. Heinrich
geb. 13.02.1925 in Grünheide/Ostpreußen

gest. 12.02.2000 in Sierkshagen/Mecklenburg-Vorpommern

 

 

In unsagbarem Schmerz und
im Namen aller Hinterbliebenen
Tochter Birgit Adler, geb. Obst
Ehemann Toralf Adler
Dieter, Lena Marie und Saskia
als Enkelkinder

 

 

Die Kirche in Sierkshagen schien aus allen Nähten zu platzen, die meisten Frauen und Männer saßen dicht aneinander gedrängt auf den harten Holzbänken. Es gab aber auch nicht einen freien Sitzplatz mehr im großen Kirchenschiff. Nein, nicht nur das, auch mussten noch etliche Gäste unter der Orgelempore und im breiten Gang zum Altar hin die Trauerfeier äußerst unbequem im Stehen begleiten.

Trotz Martas bescheidener, zurückhaltender Art waren fast alle Sierkshagener gekommen, um ihr die letzte Ehre zu erweisen.

Eines ist jedenfalls sicher, so viel Aufmerksamkeit, wie an diesem eiskalten Wintertag, wurde ihr zu Lebzeiten niemals zuteil.

Obwohl, die meisten Menschen drängten sich nur aus reiner Sensationsgier in das Gotteshaus.

Wie würden sich Adlers verhalten? Besaßen die überhaupt ein Gewissen?

 

Die beiden Leichengräber quälten sich schon am Vortag, um ein Loch für den Sarg in die tiefgefrorene Friedhofserde zu graben. Seit über einer Woche zeigte das Thermometer tagsüber und auch nachts minus zehn Grad an. Der sonst so weiche Boden erwies sich nunmehr hart wie Beton und machte den jungen Männern arg zu schaffen. Sie dampften wie Pferde nach einem langen Ritt aus ihren dicken Wattejacken. Vielleicht aber wollte Marta auch nicht in gesegneter Erde zu Erde werden? Verdenken konnte man es ihr nicht, dass sie sich schon zu Lebzeiten früh von Gott abgewandt hatte, nach alldem, was sie in der Vergangenheit durchmachen musste.

Im Alter lautete ihr Leitspruch, und den brachte sie bei jeder Gelegenheit und mit Betonung an den Mann: »Ich glaube nur an Schicksal und Natur!«

 

Ganz vorne in der alten evangelischen Kirche, gleich in der ersten Reihe auf der rechten Seite vom Kirchenschiff, saßen mit tiefroten verweinten Gesichtern Birgit und Toralf Adler und ihre lieben Kinder. Immer wieder gingen Trauergäste nach vorne, die sich erst einmal vor dem mit Blumen und Kränzen geschmückten Sarg verbeugten und in kurzer Andacht verharrten.

Viele Trauergäste, besonders die Frauen, gingen auch nicht eher weg, bis sie alle Grüße auf den Schleifen der Kränze gelesen hatten, auch wenn sie sich dabei den Kopf verrenkten, um dann den Adlers, jedem einzelnen, ihr aufrichtiges Beileid auszusprechen.

Mit tränennassen Augen schaffte Birgit es dann jedes Mal geradeso, einen körperlichen Zusammenbruch zu verhindern. So traurig, aber hauptsächlich wütend war sie auf ihre Mutter.

Besonders Saskia schaute die ganze Zeit mit versteinertem Gesicht, wie abwesend auf den Sarg, in dem ihre tote Oma lag und begriff ohne Zweifel zum ersten Mal, wie unwiderruflich Abschied nehmen sein konnte. Schließlich hatte sie in den letzten Jahren noch die meiste Zeit mit ihrer Großmutter verbracht und fühlte schmerzhaft, dass auch sie nicht ganz unschuldig an ihrem Tod war.

 

Martas Lebensweg brachte der Pastor mit lang gezogenen Worten und wehmütiger Stimme zum Vortrag. Teilweise sang er mehr, als dass er sprach: Er berichtete von Martas glücklicher Kindheit und Jugend auf dem »Großenhof« bei Onkel Fritz und Tante Magarete im masurischen Dorf Grünheide und der vielen Arbeit in Mutters kleiner Gaststätte mitten in der Kreisstadt Johannisburg/Ostpreußen. Er redete von Vertreibung, Flucht und Neubeginn. Davon, dass sie später in Mecklenburg heimisch wurde, immer fleißig und ehrbar bis zu ihrer Rente in der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft im Schweinestall die Tiere schlachtreif gefüttert hatte. Jahrein, jahraus, ohne einen einzigen Tag Urlaub zu nehmen. Selbst dann noch, als ihr Mann Paul vor über dreizehn Jahren starb, opferte sie sich unermüdlich für die gesamte Familie auf. Ihr einfaches Leben kannte kaum Abwechslung, welche sie auch nie wirklich wollte. Sie fühlte sich wohl im neu gebauten Haus ihrer Tochter Birgit, in dem auch ihr Mann und sie ein Zimmer bekommen hatten.

Endlich brauchten sie nicht mehr über den Hof auf die Toilette gehen. In der Küche und im Garten fand sie Freude und Entspannung. Aber in ganz besonderer Liebe fühlte sich die alte Dame zu der vierzehn Jahre alten Saskia hingezogen, die sie praktisch von Geburt an begleitete und mit groß zog. Was der Pastor nicht sagte, dachte so manch einer in der großen Runde: Es blieb der Marta ja auch gar nichts anderes übrig, als sich um alles im Haus und die Kinder zu kümmern, denn nach der Wende arbeiteten Toralf und Birgit von morgens bis abends in der ortsansässigen Fruchtsaftfabrik »Mecklenburger Gold«. Und selbst die meisten Wochenenden verbrachten sie auf Messen und Seminaren, natürlich immer im Doppelpack. Bis einen Tag kurz vor Martas 75. Geburtstag ihr, für alle so plötzlicher, Tod eintrat. Obwohl noch eine Woche vorher der Hausarzt Marta besucht und ihr völlige körperliche Gesundheit attestiert hatte.

Ausdrücklich lobte er damals: »Marta, Sie sind fit wie ein Turnschuh, da kommen sicher noch viele schöne Jahre auf Sie zu. «

 

Blumen und Kränze rahmten feierlich den schweren, dunkel glänzenden Eichensarg ein. Ja, richtig teuer sah der Sarg aus. Das war nicht einfach nur ein Verbrenner. Das gute Stück da vorne musste mindestens fünftausend DM gekostet haben. Mutters letzten Gang ließen sich die Kinder eine Menge Geld kosten. Die Trauergäste sollten es ruhig sehen, hier und heute wurde nicht gespart. Aber selbst an diesem Tag zahlten sie nur für die Show, den lieben Gott oder sonst wen, aber mit Sicherheit nicht für die Mutter.

Zu Martas Lebzeiten blieb die Kasse verschlossen. In den letzten Jahren wurde ihr alles weggenommen, nicht nur die monatliche Rente, sondern auch nach und nach der letzte Rest ihrer Würde.

 

 

 

 

 

So, jetzt aber genug gejammert, Augen auf und viel Spaß beim Lesen.

Ihr dürft weinen und lachen und es euch beim Lesen gemütlich machen.

 

Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, dass Martas Geschichte in allen Teilen von mir frei erfunden worden ist.

 

Ähnlichkeiten mit in dem Buch vorkommenden Orten und Personen wären rein zufällig.

 

Außerdem gibt es so böse Menschen ja nur im Märchen.

 

 

1. Kapitel

 

Ostpreußen, im Winter 1925

 

Fritz Heinrich klopfte dreimal mit der Spitze seines Zeigefingers auf das Quecksilberthermometer, das an der Außenwand neben der schweren Holztür zum Rinderstall lose an einem rostigen Nagel baumelte. Der kleine Silberstreifen in dem Glasröhrchen blieb hartnäckig am untersten Rand der Skala stehen, es zeigte minus 21° Celsius an.

Verdammte Kälte, dachte er bei sich, und das Schneetreiben hörte nicht auf. Mit Sicherheit würde seine hochschwangere Schwägerin Annemarie nicht mehr rechtzeitig nach Hause kommen. Sie lag bereits in den Wehen und schrie in regelmäßigen Abständen das halbe Dorf zusammen, wie unangenehm.

Fritz erschrak jedes Mal und das nicht ohne Grund. Er zog instinktiv den Kopf tief auf den Rand seiner Wattejacke, wenn die Frau seines Bruders losquiekte wie ein angestochenes Schwein. Er kannte das nur zu gut. Denn wenn er mit Annemarie im Bett Liebe machte, begann sie regelmäßig kurz vor ihrem Höhepunkt und währenddessen und danach derartig loszubrüllen, dass die Bilder in der Pension von der Wand zu fallen drohten. Fritz grinste, wahrscheinlich war Entbindung ähnlich schön für Frauen wie ein Höhepunkt. Musste wohl so sein, denn viele Frauen bekamen in ihrem Leben zehn Kinder und mehr. Selbst hier im kleinen Dorf Grünheide gab es mehrere kinderreiche Familien. Auf Schlag fielen ihm die ganzen Blagen von Gelsings ein oder auch die alleinstehende Frau Jäger, die trotzdem jedes Jahr von neuem ein Kind in die Welt setzte.

Annemarie stöhnte wieder einmal laut hörbar auf. Unangenehm berührt schaute Fritz nach links und rechts zu den Nachbarn, aber niemand ließ sich im Dorf sehen. Nur der schnurgerade aufsteigende Rauch kroch langsam, aber stetig, aus seinem und den Schornsteinen der Nachbarhäuser und verschwand wie an einem dicken grauen Band in den dunklen, windstillen Abendhimmel, begleitet von großen Schneeflocken, die sich scheinbar Mühe gaben, sanft und lautlos auf den Boden zu fallen. Bereits zu beachtlichen Bergen türmten sich die, von seiner Hand zusammengeschobenen, Schneemassen an den Zaunseiten im breiten Karree vom Großenhof auf.

 

Fritz ging in Begleitung von seinem sechs Jahre alten Mischlingshund Prinz langsam an den Rand der Dorfstraße. Nein, hier kam in nächster Zeit keiner mehr durch. Er schüttelte unbewusst den Kopf, sie waren wieder mal eingeschneit, abgeschnitten von der Außenwelt. Das betraf hauptsächlich die vierzehn Kilometer entfernte Kreisstadt Johannisburg und seine dünnbesiedelten umliegenden Dörfer. Hier in der südlichsten Ecke der Masurischen Seenplatte spielte die Natur die Musik und der Winter führte den Taktstock von November bis weit in den März hinein. Auf schneereiche, eiskalte Winter folgten kurze, heiße und trockene Sommer.

Trotzdem wusste Fritz mit absoluter Sicherheit, dass er niemals von hier weggehen würde. Als Bauer und Kaufmann zugleich liebte er diesen Flecken alter deutscher Erde, den er damals, vor Jahren, zusammen mit seinem Vater Otto unter sehr günstigen Umständen erworben hatte.

Der sechzig Hektar große Hof gehörte schon seit 1905 den aus Berlin Mitte stammenden Heinrichs. Im Zuge einer ersten Germanisierungswelle begann ab dem neunzehnten Jahrhundert eine Umbenennung pruzzischer Ortsnamen in Ostpreußen.

So erhielt auch Alt Usczany ab dem 21.04.1905 mit Grünheide einen rein deutschen Namen, gehörend zum Königreich Preußen, Provinz Ostpreußen, Regierungsbezirk Allenstein im Landkreis Johannisburg.

Auf Heinrichs Hof wohnte Fritz mit seiner Frau Magarete sowie die Eltern von Fritz, Otto und Ruth Heinrich. Als ganz spätes Mädchen gab es da noch Oma Friderike Krosta aus Schlösschen, Magaretes Mutter, die sich am liebsten nur auf masurisch unterhielt, einer polnisch ähnlichen Mundart, die fast allen Einwohnern in ganz Masuren geläufiger war als die deutsche Sprache. Ihr viel jüngerer Mann Herbert Krosta, ein kleines Hutzelmännchen, sprach zwar auch masurisch, aber meistens Hochdeutsch. Dafür liebte und lebte er das Bauerntum mit Leib und Seele.

Die Menschen wohnten nicht in Armut, aber in bescheidenen ordentlichen Verhältnissen.

Von Montag bis Sonntag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, Jahr für Jahr, wurde schwer gearbeitet, aber auch gehandelt, gefeiert und gelebt. Für die Menschen auf ihren Höfen blieb es trotz aller Entbehrungen das Paradies auf Erden, meistes ein Leben lang.

 

In Johannisburg gab es schon seit ein paar Jahren elektrisches Licht und Wasser aus der Wand, in den weit entfernten Großstädten Königsberg und Danzig war das künstliche Licht noch viel heller, da gab es überhaupt keinen Nachthimmel mehr, nur noch Tag, 365 Mal im Jahr. Ein Glück blieb sein Dorf Grünheide mit seinen 158 Einwohnern bislang von dieser neuzeitlichen modernen Welt verschont.

Plötzlich blieb Prinz stehen, mit vereister Schnauze bellte er in südliche Richtung. Bestimmt kamen wieder Wölfe von Polen herüber.

»Braver Hund.«

Fritz streichelte seinem besten Freund den frischen Schnee vom Rücken und schaute in Richtung der nur knapp zehn Kilometer entfernten polnischen Grenze. Diese verdammten Wölfe, dachte er.

 

Ein Glück hatte damals die Vernunft gesiegt, aber es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre sein Zuhause für immer verloren gewesen.

Vor dem großen Krieg gab es nur ein Grenzland im Osten Deutschlands und das hieß Russland. Seit Juni 1919 musste das Deutsche Reich, als Kriegsverlierer, Teilgebiete Ost- und Westpreußens zwangsweise an das neu entstandene Polen abgeben und sich weiten Teilen des Landes in sogenannten Abstimmungsgebieten laut Versailler Vertrag stellen. Dazu gehörte auch der Kreis Johannisburg mit dem größten zusammenhängenden Waldgebiet in ganz Ostpreußen und auch dem gesamten Deutschen Reich. Das Abstimmungsergebnis ist jedem Kind bis heute bekannt: Im Kreis Johannisburg gab es nur vier Stimmen für Polen.

 

Aber wer sind die Masuren eigentlich? Die meisten Deutschen zucken bei der Frage nur mit den Achseln. Die Masuren haben es, aufgrund eines Völkergemisches und als Grenzlandbewohner weit im Osten der Heimat, schwer, Masuren sein zu dürfen. Nur wenn es den Deutschen und Polen gefiel, die Masuren für ihre Interessen zu benutzen, dann nahmen beide sie für ihre Zwecke in Gebrauch. Die deutsche Seite berief sich bei ihren Besitzansprüchen auf die subjektiven Kriterien wie Bekenntnis, Gesinnung, Selbstverständnis, persönliche Entscheidung und den freiheitlichen Willen des Einzelnen, während die Polen auf die objektiven Merkmale wie Herkunft, Sprache und Tradition setzten. So wurden die Masuren jahrhundertelang zum Spielball zweier Völker.

Die Masuren aber waren nie ein Störfaktor, sondern durch ihr Völkergemisch stets ein Bindeglied, das entschieden zur Versöhnung der Staaten untereinander beitrug.

Die Charakterisierung des Masuren von außerhalb zeigte seit jeher zum Negativen, obgleich sie nicht besser oder schlechter als die anderen deutschen Landsleute den Alltag bewältigten.

Allein die Reichsdeutschen waren nicht in der Lage, zwischen den polnischen und masurischen Menschen und ihren geschichtlichen Hintergründen zu unterscheiden. So stand bei ihnen jeder Masure, der sich mit seiner angestammten Geschichte, mit seiner heimatlichen Tradition und mit seiner Sprache beschäftigte, als »Pollak« fest. Diese Einschätzung des Masuren hat ihre Begründung darin, dass Ostpreußen im Bewusstsein der Reichsdeutschen als Spinnwinkel weit im Osten am Rande Deutschlands lag und stets mit Befremden empfunden wurde, weil es von der slawischen Flut vereinnahmt werden wollte.

Auch deshalb blieb Masuren für viele Landsleute hinter einer Bretterwand jenseits ihrer Vorstellungen versteckt, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Das war vor allem nach 1918 der Fall, als Ostpreußen durch den polnischen Korridor vom Reich abgetrennt und zur Insel wurde. Außerdem lag es zwischen zwei eigenwilligen Strömen, nämlich der Weichsel und Memel, und nicht der Elbe und dem Rhein. Bei den Masuren weit im Osten hörten scheinbar alle Segnungen der Kultur und Zivilisation auf. Eine Reise nach Ostpreußen kam einer Expedition in unerschlossene Gebiete gleich.

Dieses Abstempeln des Masuren als Hinterwäldler hatte zur Folge, dass sich der Masure gegenüber anderen Landsmannschaften gehemmt und unverstanden vorkam, ja bisweilen sich seiner Zugehörigkeit schämte, vor allem in der Fremde. Es ging sogar so weit, dass einige ihr Masurentum verleugneten und es auch heute noch tun, um nicht als »Pollacken« abgestempelt zu werden.

Viele tausende Masuren, die während der großen wirtschaftlichen Krise in das Ruhrgebiet, nach Hamburg und Berlin abwanderten, der sogenannten Landflucht, verheimlichten ihre kulturelle Heimat und ließen sich ohne Widerstand entwurzeln.

Die Masuren fühlten sich durch Staat und Kirche nicht verstanden, falsch behandelt und als Bürger zweiter Klasse abgestempelt. Die polnische Seite wiederum war nicht in der Lage, den konfessionellen Unterschied zum Polentum und die geschichtliche Entwicklung richtig zu werten, einzuordnen und daraus das nationale Selbstverständnis dieser Volksgruppe zu akzeptieren.

Die Polen sprachen ständig von der Rückführung der Masuren in den Schoß der polnischen katholischen Mutterkirche.

Beide Staaten aber taten den Masuren unrecht.

Sie gestanden ihnen nämlich nicht das zu, was der Deutsche Orden und die preußischen Könige den Masowiern, Polen und Kurpis in Masuren erlaubten, nämlich alleine nach ihrer Lebensart selig zu werden, und dazu gehörten nun einmal die Muttersprache und die Religion. Es ist bedauerlich, dass die Reichsdeutschen zwischen der masurischen und polnischen Sprache nicht zu unterscheiden wussten und ihre geschichtliche Entstehung nicht verstanden oder vielmehr nicht verstehen wollten.

Es steht doch eindeutig fest, dass Träger dieser Sprache die masowischen Siedler waren, die im 14., 15. und 16. Jahrhundert die pruzzische und auch deutsche Sprache aufgrund ihrer Mehrheit verdrängten. Mit den masowischen Siedlern kamen aber auch deren Sitten und Gebräuche wie Speisen, Getränke, Feste, Liedgut, Hausbau und Tanz ins Land. Gerade in den bäuerlichen Gemeinschaften spielte in der Fremde die traditionelle Erhaltung des mitgebrachten Kulturgutes in den ersten drei Generationen wegen des Zusammenhalts in einer fremden Umwelt eine entscheidenden Rolle.

Die ursprünglich mitgebrachte masowische Sprache der siedelnden Masowier wurde 1525 durch die Reformation jäh in Frage gestellt, weil die Bewohner sich nunmehr von den südlicher sesshaften katholischen Polen religiös abgrenzen mussten und wollten. Doch sie taten es nicht nur religiös, sondern auch geistig und sprachlich. Das ist der eigentliche Grund, warum das Masurische nicht an der Entwicklung der hochpolnischen Sprache teilnahm. Das Altpolnisch, die masowische Sprache, wurde mit der Zeit zu einer masurischen, und zwar dadurch, dass in sie deutsche Lehnwörter und andere Spracheigentümlichkeiten wie Französisch, Holländisch, Russisch usw. einflossen. So erhielten die Masuren im Grunde genommen über viele Jahre ihre eigene entstandene, vom Masowischen abgeleitete Sprache. Diese masurische Mundart signalisierte das wahre Masurentum, das Pruzzische, das Preußische, den evangelischen Protestantismus, das Deutsche, niemals aber das Polentum, das Katholische.

Der heidnische altpruzzische Stamm der Galinder bewohnte ein Gebiet, das sich über das südliche Ostpreußen hinaus bis in das spätere masowische Land erstreckte. Da der Deutsche Orden gegenüber den Masowiern, die ja ohnehin seine katholischen Brüder waren, keinen Wert auf den »unbewohnten Wildnisbereich« südlich des alten pruzzischen Galindiens legte, dehnte sich das Herzogtum Masowien, das den Ritterorden zur Christianisierung, Unterwerfung und Ausrottung der heidnischen Pruzzen 1238 ins Land holte, bis ins südliche Galindien aus. Die Einwanderer zur Zeit des Deutschen Ritterordens aus Masowien gehörten im 11. und 12. Jahrhundert zu den früheren altpruzzischen Gauen Galindien, Sassen und Sudauen. Daher stellen sie keine masowische, sondern vielmehr eine pruzzische Bevölkerung dar. Es ist davon auszugehen, dass der neue Stamm der Masowier und Pruzzen sich nun den Namen »Masuren« gab, aus dem Wortstamm »Mas« der Masowier und den Buchstaben »uren« der Pruzzen. Demnach sind die Masuren mit Sicherheit pruzzischer Herkunft.

Seitdem grenzten sich die zu Preußen gehörenden Masuren aus den Gebieten Sassen, Galinden und Sudauen, die von dem Jahre 1525 ab rein evangelisch-protestantisch waren, von den römisch-katholischen Masowiern ab, die auf polnischem Gebiet lebten.

In früheren Zeiten spielten die Nationalitäten ohnehin eine untergeordnete Rolle. Wichtig waren allein die Religionszugehörigkeiten, die zugleich auch die Nationalitäten festlegten: Einerseits römisch-katholisch = polnisch, auf der anderen Seite evangelisch-lutherisch = deutsch.

 

Der Begriff Masuren fand eine Verbreitung und Anwendung unter dem Einfluss der Romantik, die sich eingehend mit der Erforschung kleiner Volksgruppen befasste, wie Sprache, Sitten und Gebräuche. Masuren sind die Einwohner des südlichen Ostpreußen mit ihrer masurischen Umgangssprache in den Kreisen Osterode, Neidenburg, Allenstein, Ortelsburg, Sensburg, Johannisburg, Lötzen, Lyck, Treuenburg sowie teilweise die Kreise Angerburg und Goldap. Das Gebiet umfasst ein Drittel der Provinz Ostpreußen und gehört zu den Regierungsbezirken Allenstein und Gumbinnen.

Beim Masurentum geht es um etwas Verwurzeltes, Festgefügtes und wiederum langsam Gewachsenes. Das prägende Element der Masuren ist aber folgendes: Sie waren zwangsläufig das Bindeglied zwischen der östlichen slawischen und der westlichen germanischen Welt Europas. Sie stellten die Nahtstelle dar und waren gleichzeitig der Kugelfang für das Deutschtum, die erste hemmende Schranke gegen den feindlichen Ansturm aus dem Osten. Masuren ist über Jahrhunderte ein Grenz- und Siedlungsland gewesen. Hier mischten sich zum gegenseitigen Vorteil einheimische Pruzzen mit Deutschen, Masowiern, Polen, Litauern und vielen anderen Europäern.

So entstand über einen großen Zeitraum der Masure, ein europäischer Mischling mit tolerantem Denken und Handeln sowie einem ausgesprochenen Freiheitsdrang. In ihm vereinigten sich viele positive Eigenschaften, die andere Volksgruppen nicht aufzuweisen haben, weil sie sie zum Überleben nicht brauchten. Die Masuren sind trotz ihrer polnisch ähnlichen Muttersprache immer und ewig bestrebt gewesen, heimatlich und vaterländisch deutsch zu denken und zu handeln.

Wer das anders einschätzt, ist ein Hundsfott.

Denn kein Masure wollte auf irgendeiner Art mit einem Polen in Beziehung gebracht werden. Es bestand stets eine gewisse Abneigung gegen „die-da-drüben“. Keineswegs spielte da Hass gegenüber dem Nachbarn eine Rolle, alleine die Lebensart der Polen machte den Unterschied. Jeder Masure erkannte sofort, wenn er zum Schmuggeln oder zufällig beim Pilze suchen über die grüne Grenze nach Polen kam, an den Ortschaften und an den Gehöften, dass er sich nicht mehr Zuhause befand.

Das sieht bei dir aus wie auf einer »Polenwirtschaft« galt als ernsthaftes Schimpfwort im Reich.

Die Abstimmung im Jahre 1920 brachte den eindeutigen Beweis dafür. Viele Denkmäler entstanden danach in ganz Masuren, so auch das größte Abstimmungsdenkmal in Allenstein, jener patriotischen Gedenkstätte, die an den Verbleib der elf südlichen Kreise im Reich erinnert. 363.209 der dort lebende Bürger stimmten damals für Deutschland und nur 7980 für Polen.

 

Fritz Heinrich wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen. Seine Frau stürzte schreiend, ohne Klumpen, nur mit Rosshaarsocken an den Füßen durch den frisch gefallenen Schnee in die Arme ihres Mannes.

»Fritzi, ein neuer Erdenbürger ist in unserem Haus gesund angekommen.«

Ruhiger werdend, aber immer noch schwer atmend und mit rotem Gesicht sagte sie: »Es ist ein rosarundes süßes Mädchen, eine kleine Marta. Und stell dir vor, schon mit ganz vielen schwarzen Haaren auf dem Kopf, wie ihr Vater.«

Magarete löste sich, tief Luft holend von ihrem Mann und hängte sich bei ihm ein. Sie bekam nicht mit, dass er bis über beide Ohren rot anlief.

»Komm, lass uns reingehen.« Leise fügte sie hinzu: »Ach Fritzi, ich wünsche mir für uns auch so etwas kleines Rosiges. Weißt du, so so sehr, ich gebe die Hoffnung nicht auf. Annemarie erzählte mir mal, sie hatte nur einmal mit Artur geschlafen, fast wie nebenbei, in der Wäschekammer von dem Lazarett, weißt du, wo er krank lag, und war gleich ein Treffer und wir beide üben schon so lange.«

Fritz sagte gar nichts dazu, er konnte ja auch nicht zugeben, dass es nicht an ihm lag, dass noch immer keine eigenen Kinder auf dem Großenhof lachten und spielten.

 

Denn just in diesem Moment wurde Fritz Heinrich zum ersten Mal Vater einer kleinen zuckersüßen Tochter namens Marta.

 

2. Kapitel

 

Fritz Heinrich war zwar Preuße, aber stammte bei weitem nicht aus Masuren.

Bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr wohnte er nämlich in Berlin Treptow, in der Graetzstraße 11, in dem Wohn- und Geschäftshaus seines Vaters Otto Heinrich.

Otto besaß dort einen Zigarrenhandel und Kolonialwarenverkauf mit insgesamt drei Angestellten.

1901 überschrieb er seinem ältesten Sohn Heinz den gesamten Besitz in Berlin, hauptsächlich aus gesundheitlichen Gründen, da er schwer unter Lungenasthma litt. Er zahlte dem mittleren Sohn Artur und jüngstem Sohn Fritz das Erbe aus, notarisch festgelegt. Beide erhielten eine Entschädigung von je sechzigtausend Reichsmark und lebenslanges Wohnrecht in ihren ehemaligen Kinderzimmern des Elternhauses.

Gegen erheblichen Widerstand von Ruth Heinrich erwarb der Kaufmann Otto Heinrich im Sommer 1901 gemeinsam mit seinem Sohn Fritz vierhundertfünfzig Kilometer entfernt von Berlin auf der Neuansiedlung Alt Usczany in Ostpreußen, Kreis Johannisburg, eine 60 Hektar große Aufsiedlung für gerade mal fünfzehntausend Reichsmark, bestehend aus 18 Hektar Fichtenwald, 1,4 Hektar Hoffläche, 20,6 Hektar Wiese und 19 Hektar Ackerland. Außerdem wurde das Fischereirecht grundbuchmäßig eingetragen und ging automatisch auf die Erben über. Allerdings durfte es nicht als Handelsobjekt genutzt werden.

Beide, Vater und Sohn, ließen dort ein zweistöckiges massives Wohnhaus mit Pfannendach sowie Kuh- und Pferdestall im Karree mit noch größeren Abmaßen bauen. Es blieb das einzige Steinhaus außer der Zweiklassenschule und dem kleinen Spritzenhaus im Ort. Alle anderen Wohngebäude, die entlang der genau einen Kilometer langen Dorfstraße standen, waren aus Holz mit rotem Pfannendach oder Schilf gedeckt.

1905 lernte der bereits achtundzwanzig Jahre alte Fritz auf dem Erntedankfest in Usczany, seit ein paar Monaten amtlich auf Grünheide umbenannt, die hübsche zwei Jahre jüngere Magarete Krosta aus Schast Ausbau kennen. Der dort einzeln stehende Hof wurde von allen nur »Schlösschen« genannt.

Noch vor Weihnachten heirateten beide kurzerhand. Sie feierten ausgelassen drei Tage lang mit den Berlinern und den Einwohnern von ganz Grünheide.

Fritz blieb, auch wenn er eine Einheimische heiratete, immer noch der »reiche Neue« im Ort. Allerdings ging es mit dem Hof deutlich aufwärts, denn mit Magarete kam auch bäuerliche Schläue auf das Anwesen.

Fritz, wie auch sein Vater Otto, hatten von Landwirtschaft so gut wie keine Ahnung. Herbert Krosta aber, der Vater von Magarete, brachte mit seinem Wissen den Hof richtig auf Trab. Angebaut wurden Roggen mit guten Erträgen, Sommerweizen für den eigenen Bedarf, Gerste und Hafer als Pferde- und Viehfutter und auch Rüben und Steckrüben. Am wichtigsten aber blieben die Heuernte und der Kartoffelanbau. Nicht nur als Viehfutter und Saatgut wurden die herrlich schmeckenden Speisekartoffeln bei den Heinrichs geschätzt, nein, ein großer Teil wurde auch in Johannisburg verkauft. Die Knollen setzten dann ihre Reise mit der Bahn fort bis ins Reich: Berlin – Leipzig – Ruhrgebiet. Das meiste Heu jedoch ging per Bahn nach Arys zum größten Armeestandort im Deutschen Reich.

In den Heinrichställen gab es Schweine, Kühe, Bullen, Hühner, Gänse und Enten in großer Zahl. Neuerdings begann man auch noch sehr erfolgreich mit der Pferdezucht, alles unter den kundigen Augen von Herbert Krosta.

Sie galten bald als die reichsten Großbauern in der ganzen Gegend, weniger aus Neid denn aus Anerkennung, die sich die Familie mit Fleiß und Fürsorge, auch gegenüber den Nachbarn, hart erarbeitet hatte.

Ruth Heinrich blieb nur in den Sommermonaten auf dem »Heinrich der Großenhof«, wie er von Wiartel bis Turoscheln anerkennend in aller Munde genannt wurde. Im Winter wohnte sie in Berlin bei ihren Kindern und half im Kolonialwarenladen an der Kasse aus. Dort fühlte Ruth sich wirklich zu Hause und nicht da drüben in der »Wildnis«, wo Die sich noch mit der Zeitung die Scheiße vom Hintern wischten.

1913 wurde Otto Heinrich trotz seiner achtzig Jahre zum Dorfschulzen in Grünheide gewählt. Sein Asthma war so gut wie weggeblasen. Er organisierte siebzig Kilometer Drainageleitung an den Wiesen und baute gegenüber seinem Wohnhaus ein Insthaus zur Unterbringung für Lohnarbeiter in der Erntezeit.

 

Am Sonnabend, dem 1. August 1915, flüchteten Otto, Ruth und Magarete mit wenig Hab und Gut vom Großenhof nach Berlin, denn die russische Kriegswalze brach plündernd und mordend in die masurischen Grenzdörfer ein. Frederike und Herbert Krosta gingen zurück nach Schlösschen. Ottos Sohn Fritz wurde schon zu Kriegsbeginn 1914 für Kaiserreich und Vaterland eingezogen. Otto kam nie wieder nach Grünheide, er verstarb bei einem Verkehrsunfall, fast vor seiner eigenen Haustür in Berlin.

Vom 26. bis 30. August 1915 besiegte Fritz, als Lanzer der 8. Armee unter dem Oberbefehlshaber General Hindenburg, die vielfach überlegene Narew-Armee, die nach Ostpreußen eingedrungen war, fast vollständig. Der Kriegsschauplatz ging in die Geschichte als Schlacht bei Tannenberg ein.

Fritz überstand die Kämpfe unverletzt und ließ sich auf Antrag UK, unabkömmlich, stellen, um sich um seinen liebgewonnenen Bauernhof in Grünheide kümmern zu können. Er und seine Frau bauten mit Hilfe von Zuschüssen vom Staat und zinsgünstigen Krediten den von den Russen abgetragenen und dann verwüsteten Hof im Dorf größer und schöner als je zuvor wieder auf.

 

Zur gleichen Zeit gelangte Artur Heinrich, im Weltkrieg durch einen Bauchschuss verletzt, den er sich bei Feindberührung in den Ardennen einfing, in einem Lazarettzug nach Stettin. Er wurde in das Theresienstift eingeliefert, wo Ärzte und Schwestern lange Zeit um sein Leben kämpften. Dabei gewann er die Hilfsschwester Annemarie besonders lieb, die ihn pflegte und so manche Nacht an seinem Bett wachte.

Er heiratete Schwester Annemarie Lippa im Juni 1918, noch vor Kriegsende.

Bei der Trauung, die im Theresienstift stattfand, kam sein Bruder Fritz mit seiner Ehefrau Magarete zu einem längeren Besuch. Beide durften Trauzeugen sein. Mit großer Freude erfuhren sie, dass Annemarie Heinrich geb. Lippa in der Stadt Johannisburg, ganz in der Nähe von ihrem Hof in Grünheide, wohnte.

Artur blieb ein Pflegefall. Die Heilung seiner Wunden machte große Probleme und er wurde auf Wunsch seiner Frau endlich ins Lazarett nach Allenstein verlegt.

Trotzdem fuhr Annemarie nur noch unregelmäßig auf Besuch zu ihrem Mann. Ihr Vater kam aus dem verlorenen Krieg nicht zurück und sie musste ihrer betagten Mutter in der Pension helfen. Annemarie hatte schlichtweg keine Zeit für ihren kranken Mann.

In den Krisenzeiten Anfang der 20er Jahre besuchten nur noch wenige Gäste den »Goldenen Anker«. Das verdiente Geld reichte nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Hauptsächlich Übernachtungsgäste blieben aus, einzig gesoffen wurde noch reichlich. Zum Glück brachte ihr Fritz Heinrich einmal in der Woche frische Milch, Eier, Salzfleisch und Brot. Alles von zuhause vom eigenen Hof, um seiner Schwägerin das Leben in Johannisburg etwas zu erleichtern.

Annemarie merkte sehr wohl, dass Fritz Heinrich, dieser Schwerenöter, um sie herum schwänzelte wie ein Kater um den heißen Brei. Er versorgte sie mit Lebensmitteln, mehr, als sie bezahlte. Fritz winkte bei ihren Einsprüchen nur ab.

»Irgendwann geht es dir mal besser als mir, dann kannst du dich revanchieren, bis dahin kommt es von Herzen.«

Jedes Mal beim Auf Wiedersehen sagen hielt er ihre Hand zu lange fest und schaute mit hungrigem Dackelblick zu lange in ihre großen Augen.

 

Eines Tages, irgendwann im April 1923: Am frühen Morgen brachte Fritz Heinrich seiner Schwägerin eine Stiege Eier in die Küche. Kaum auf den Tisch gestellt, rissen sie sich gegenseitig die Kleider vom Leib und fielen wie Ertrinkende übereinander her. Annemaries greise Mutter kaufte gerade auf dem Markt Gemüse ein, keine zwanzig Meter von der Pension entfernt. Die Zeit reichte trotzdem für einen kurzen, aber heftigen Beischlaf aus. Fürs Wiederanziehen brauchten beide weitaus länger. Schweigend, ohne ein Wort zum Abschied, verließ Fritz die Pension, setzte sich auf seinen Wagen und gab dem Pferd die Peitsche. Im rasenden Galopp, vorbei an den Marktständen, wollte er nichts mehr hören und sehen, einfach nur nach Hause.

Fritz nahm sich fest vor, die heimliche Liebschaft sofort abzubrechen, er konnte anfangs seiner Frau nicht in die Augen sehen.

Mit der Zeit aber begann er diese völlig unterschiedlichen Frauen im Körper wie im Geist, jede für sich, zu lieben. Zumal Annemarie auch nicht die kleinste Andeutung machte, irgendwelche Forderungen zu stellen.

Aber auch Annemarie genoss die kurzen Momente der Zweisamkeit mit Fritz. Ihr junger Körper hungerte nach Liebe und war wie gemacht dafür. Außer ein paar flüchtigen Küssen gab es ja nichts Intimes mit ihrem kranken Ehemann und beide Brüder sahen sich so ähnlich, der Fritz und der Artur. Dieselben schwarzen Haare, die gleichen Gesichtszüge und diese unbeschreiblich blauen Augen.

Im Juni 1924 starb ihre Mutter und Annemarie Heinrich wusste mit Sicherheit, dass sie schwanger war.

 

 

Bibel, 5. Buch Mose, 25. Kapitel

 

Vers 5

Wenn Brüder beieinander wohnen und einer stirbt ohne Kinder, so soll des Verstorbenen Weib nicht einen fremden Mann draußen nehmen, sondern ihr Schwager soll sich zu ihr tun und sie zum Weibe nehmen und sie ehelichen.


Vers 7

Gefällt aber dem Mann nicht, dass er seine Schwägerin nehme, so soll sie, seine Schwägerin, hinaufgehen unter das Tor vor die Ältesten und sagen: Mein Schwager weigert sich, seinem Bruder einen Namen zu erwecken in Israel, und will mich nicht ehelichen.

 

Vers 8

So sollen ihn die Ältesten der Stadt fordern, und mit ihm reden. Wenn er dann darauf bestehet, und spricht: Es gefällt mir nicht sie zu nehmen.

 

Vers 9

So soll seine Schwägerin zu ihm treten vor den Ältesten, und ihm einen Schuh ausziehen von seinen Füßen, und ihn anspeien, und soll antworten und sprechen: Also soll man tun einem jeglichen Mann, der seines Bruders Haus nicht erbauen will.

 

 

3. Kapitel

 

Die Zeit von 1928 bis 1933 war für die Bauern im Deutschen Reich gelinde gesagt kritisch, besonders hart traf es aber die Ostpreußen. Durch die Insellage, vom Reich abgetrennt, waren sie zudem noch einer gewissen Großmannssucht der Polen ausgesetzt, die sich nach wie vor nicht mit dem polnischen Korridor und Danzig zufrieden geben wollten. Es kam in den Grenzgebieten ständig zu Provokationen und Zwischenfällen, nicht nur, aber sehr oft von der polnischen Seite aus.

Im polnisch verwalteten Korridor gab es häufig wilde Ausschreitungen gegenüber den deutschen Bewohnern, mit vielen Toten und Verletzten.

Zum Beispiel durften die reichsdeutschen Kinder in den polnischen Schulen kein Deutsch mehr sprechen. Wer das nicht einhielt, wurde mit Stockhieben bestraft. Im Großen und Ganzen klafften die Gräben zwischen beiden Völkern immer weiter auseinander.

 

Die Preise im Reich lagen auf sehr niedrigem Niveau, ein gutes und junges Arbeitspferd kam gerade mal auf fünfhundert Reichsmark. Mastschweine kosteten zweiunddreißig bis achtunddreißig Reichsmark je Zentner. In Masuren blühte der Schwarzhandel trotz strenger Strafen. Vor allem mit den Polen in den Grenzgebieten wurde geschachert, besonders junge Pferde und Schnaps wurden billig über die grüne Grenze nach Deutschland geholt.

 

Die bäuerliche Bevölkerung und die vielen Arbeitslosen, die zu Tausenden auf der Straße lagen, lösten sich von den Regierungsparteien und suchten in der NSDAP die Rettung. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich die wirtschaftliche Lage in Deutschland tatsächlich fast schlagartig zum Guten.

Auch für Fritz Heinrich brach eine neue, eine bessere Zeit an. Er wurde zum ehrenamtlichen Bürgermeister von Grünheide, Tannenheim und Fichtenwalde gewählt, außerdem noch zum Kreisbauernführer und Schöffen am Amtsgericht in Johannisburg bestellt, auch eine Mitgliedschaft in der NSDAP war für ihn selbstverständlich.

Mitunter trieb er sich dienstlich tagelang zwischen Johannisburg und Allenstein umher. Manchmal führten ihn die Amtswege bis nach Berlin oder Königsberg.

Nebenbei oder zwischendurch, so oft es zeitlich zu machen ging, beschlief er seine Schwägerin Annemarie, die immer bereit wartete.

Sie roch so gut nach französischem Parfüm, es stand ein eckiger halbvoller Flakon auf ihrem Nachtschrank: »Regal Nr.5«.

Fritz brauchte nur leicht an Annemaries Ohrläppchen zu knabbern, dann begann die gut geformte Frau am ganzen Körper zu zittern und schmolz dahin wie süßer Honig. Sie schrie wie eine Besessene, wenn er sie gut nahm. Fritz drückte ihr, wie schon so oft vorher, ein Kopfkissen ins Gesicht aus Angst, sie könnte bis auf den Marktplatz gehört werden. Erschöpft drehte er sich dann von ihrem Körper und sagte: »Irgendwann treten die Gendarmen deine Haustür ein.«

Annemarie war das egal, Fritz war ihr Lebensmittelpunkt, sie genoss jede Sekunde mit diesem Mann.

 

Fritz bemühte sich erfolgreich, die Beziehung geheim zu halten. Nur wenig später machte sein Bruder Annemarie zur jungen Witwe.

Nachdem Artur jahrelang im Krankenbett vor sich hinsiechte, wurde er in eine sogenannte Euthanasieanstalt nach Oranienburg verlegt, wo er kurze Zeit später starb. In der neuen Volksgemeinschaft war kein Platz mehr für Dauerkranke. Die Benachrichtigung durch die Klinikleitung las Annemarie ohne innere Anteilname. Ja, sie empfand sogar Erleichterung über seinen Tod.

Das Schreiben beinhaltete nur wenige Sätze:

 

Sehr geehrte Frau Annemarie Heinrich,

 

leider müssen wir Ihnen mitteilen, das Ihr Mann Artur Heinrich am frühen Morgen an den Folgen seiner Kriegsverletzungen verstorben ist.

Artur Heinrich schlief friedlich, unserem Führer bis zuletzt treu ergeben, für immer ein. Gott beschütze Sie in der schweren Stunde der Trauer.

 

Stempel Unterschrift Der Amtsarzt

 

In der Anlage erhalten Sie den Totenschein.

Seine persönlichen Habe werden wir Ihnen in den nächsten Tagen mit der Post zustellen.

 

MfG Heil Hitler

 

Zu Hause auf dem »Großenhof« führte mehr oder weniger Magarete mit ihrem Vater Herbert Krosta und der bereits über siebzigjährigen Mutter Frederike die Wirtschaft. Fritz kam ja kaum noch zum Schlafen nach Hause. Man sah ihn nur noch selten hoch oben auf dem Grasmäher oder im Stall beim Abfüttern der Tiere. Zwar halfen regelmäßig Freiarbeiter die Ernte einbringen, aber dennoch war es kaum zu glauben, dass die verbleibenden drei Personen es über das Jahr schafften, die vielen großen und kleinen Tiere auf dem Hof zu versorgen. Na gut, Marta half auch viel auf dem Großenhof, Gänse und Schweine hüten, Eier einsammeln, Pferde striegeln oder einfach nur in der Küche Geschirr abwaschen. Ach was, die Arbeit hier auf dem Hof nahm keinen Anfang und kein Ende und das zu jeder Jahreszeit. Außer im Winter, da liefen die Uhren auch hier deutlich langsamer, da machten selbst die Masuren nur das Nötigste.

Trotzdem, Menschen und Tiere gleichermaßen sehnten sich den Frühling immer wieder herbei.

Der Lenz kündigte sich an, wenn das Eis auf den großen Seen brach. Die krachenden Geräusche verhallten manchmal tagelang nicht. Unheimlich schallte es dann bis in die guten Stuben der Häuser hinein.

Die Masuren sagen, das sind die aufgestauten Schmerzen der ausgerotteten heidnischen Galinder, die hier einmal in großer Zahl gelebt hatten. Ja, bis der Ritterorden mit dem eisernen Schwert kam und weder Volk noch Brauchtum am Leben ließ.

Jedes Jahr in dieser Zeit ging auch Fritzi mit vielen anderen Männern im Dorf, und es durften nur Männer sein, runter zum Niedersee und besänftigte die Vorfahren mit reichlich mitgebrachtem Bärenfang, den sie dann feierlich in die gebrochenen Eisspalten gossen mit der Bitte um Gesundheit für die ganze Familie und einer guten kommenden Ernte.

Wie unchristlich. Zumal sie den meisten mitgebrachten Alkohol selber austranken und alle, ausnahmslos, sturzbesoffen wieder nach Hause torkelten.

 

 

4. Kapitel

 

Juli 1938

Marta erhielt von ihrer Mutter den Auftrag, Vetter Alfred Heinrich, aus Berlin kommend, vom Bahnhof abzuholen und ihn dann auch gleich nach Grünheide rüberzubringen.

Annemarie rief ihr noch aus der Küche hinterher: »Bitte beeile dich, wir bekommen heute noch das Haus voll mit Reisenden aus dem Reich. Im Sommer ist das Gott sei Dank so!«

Marta schaute genervt an die Flurdecke und schimpfte: »Ja, Mama, Betten beziehen, Staub wischen, bohnern, Cousin begleiten. Du weißt aber schon, dass ich Ferien habe und erst 13,5 Jahre alt bin!«

Ohne eine Antwort abzuwarten schnappte Marta sich ihr Herrenfahrrad, den Kopf lachend nach hinten werfend, und schob es auf die Straße. Trotz allem liebte sie ihre Mutter über alles und half gern in der Wirtschaft, allerdings zum Nachteil von Freundschaften mit Mädchen in ihrem Alter. Regelmäßige Aufgaben, auch auf dem Großenhof, kannte sie seit ihrer frühen Kindheit zur Genüge: Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit.

Marta warf die schwere Haustür aus Eiche mit Schwung zu. Zufrieden drehte das Mädchen die Pedale nach unten, stellte sich mit dem linken Fuß auf die Raste, schob das Herrenfahrrad ein wenig an, rutschte mit dem rechten Bein geschickt unter die Stange und radelte trotz erheblicher Schräglage sicher am Markt entlang, vorbei an der vornehmen Konkurrenz, dem Hotel »Graf York«, danach gelangte sie in die Königsberger Straße. Weiter ging es über die Schanzenstraße, dann bog Marta auch schon in die Bahnhofsstraße ein. An ihrem Ende stand das große Bahnhofsgebäude.

Marta stellte das alte Fahrrad an die Wand und schaute zu großen Uhr, die über den Großbuchstaben JOHANNISBURG (Ostpr.) hing. Sie stellte erleichtert fest, dass noch sechs Minuten Zeit vergehen mussten, ehe der Zug aus Allenstein eintraf. Marta las auf der Tafel in der Eingangshalle: Planmäßige Ankunft des D-Zuges um 9 ½ auf Bahnsteig Zwei.

Marta liebte den Bahnhof über alles. Von hier aus konnte man in die ganze Welt reisen. Auch mochte sie die dampfschnaubenden riesigen Lokomotiven, wie auch jetzt gerade eine mit ohrenbetäubenden Pfeifen bremsend über die Schienen quietschte, fast völlig in Dampf gehüllt, und ganz langsam zum Stehen kam.

Der Bahnhofsvorsteher persönlich schritt in forscher Uniform, mit einer Kelle und Pfeife bewaffnet, auf den Bahnsteig. Mit strenger Miene beobachtete er geduldig, wie alle Fahrgäste vorschriftsmäßig ein- oder ausstiegen, um erst dann mit einem lang gezogenen Pfiff aus seiner fast durchgebissenen Trillerpfeife und hochgehaltener Kelle dem Lokführer die Weiterfahrt nach Bialla amtlich freizugeben.

Sofort setzte sich die Eisenbahn schwerfällig in Bewegung. Der Lokführer verabschiedete sich ebenfalls mit einem geräuschvollen spitzen Pfiff aus dem Typhon. Er schob seine speckige Schiebermütze gerade und gab Volldampf auf die Kolben.

Ein wenig aufgeregt suchte Marta im Gewimmel von Menschen nach einem 15jährigen Jungen, den sie noch nie vorher gesehen hatte, außer auf einem Foto zusammen mit Onkel Heinz und Tante Else.

Da, das musste er sein. Marta erblickte einen relativ großen schlaksigen Jungen auf sich zukommen, bekleidet mit einem bunten Sommerhemd, Weste und kurzer Hose.

Sie nahm das Papier-Namensschild mit den großen Buchstaben »ALFRED HEINRICH« wieder herunter und rollte es schnell zusammen. Der hübsche Junge mit den kurzen schwarzen Haaren blieb vor Marta stehen und stellte stöhnend seinen Hartkoffer ab.

»Hallo, du musst Marta sein. Mit dem Auto bist du wohl nicht da? Ich glaube, meine Mutter hat mir Steine in den Koffer getan, so schwer ist der.«

Sie gaben sich die Hand. Marta drängte: »Ja ja, ich bin es, die Marta, und ich soll dich nach Grünheide bringen, das ist noch ein ganz schön weiter Weg. Onkel Fritz ist unterwegs und ich bin leider nur mit dem Rad hier.«

Alfred klemmte umständlich seinen Koffer auf dem Fahrradgepäckträger fest und verzurrte ihn zusätzlich mit einem Band. Er bestimmte: »Du setzt dich vorne auf die Stange als Gewichtsausgleich und sagst mir, wo es lang geht. Mein Vater sagt immer, schlecht gefahren ist immer noch besser als gut gelaufen.«

Die Kinder radelten die Bahnhofsstraße zurück, an der Kreuzung weiter bis zur Hegelstraße und dann auf der Turoschelner Straße raus aus Johannisburg in Richtung Wiartel. Dann wechselte das Pflaster von »Katzenköpfe« auf einfache Schotterstraße, zur Hälfte aus sandigem Sommerweg, gerade so breit, dass dort eine Kutsche fahren konnte. Als sie, schon im Wald, an eine Weggabelung kamen, sagte Marta hektisch: »Fahr jetzt links den »Wikop« lang. Der ist zwar nicht so gut ausgebaut, aber wir sparen sechs Kilometer von insgesamt 14 bis Grünheide. Um ein Haar wärst du vorbei gewesen.«

Sie fuhren wie auf einem Teller, ohne den geringsten Anstieg, nur durch schattigen Wald, trotzdem konnte Alfred vor Anstrengung kaum noch treten. Vorne atmete er den angenehmen Geruch von Martas vollen Haaren ein, die seine Nase kitzelten, hinten lief ihm der Schweiß am Hintern herunter.

Dann endlich, die beiden hatten ihr Ziel erreicht. Das Ortsschild Grünheide/Krs. Johannisburg ließ daran keinen Zweifel mehr aufkommen.

Auf der rechten Straßenseite erstreckte sich zuerst der Sportplatz, an dem sich, nur von einer Buschreihe getrennt, der Adolf-Hitler-Platz anschloss. Marta sagte meistens noch den alten, viel bewussteren Namen und zeigte mit dem Finger in die Richtung.

»Dort ist unser Tinkplatz, da feiern die Familien und wir Kinder aus dem Dorf Maifeier, Johannisfeuer und vieles mehr. Hier links steht unsere Schule, noch zwei Gehöfte und dann sind wir auch schon da, bei Onkel Fritzi auf dem Großenhof.«

Sie fuhren bis vor die Holzbank, auf der umgestellte Milchkannen standen, direkt hinter der Toreinfahrt vom Großenhof. Tante Magarete nahm sie freudig in Empfang, sie sprach gedehnt und betonte gerne das „r“ in jedem Wort, so wie es in ganz Ostpreußen üblich war.

»Da seid ihr ja endlich, ich hab mir schon große Sorgen gemacht. Mei Bub, bist du groß geworden, ach Junge. Was gibt es Neues aus der Reichshauptstadt?«

Magarete Heinrich schnatterte nur so drauf los. Marta verabschiedete sich eilig: »Ich muss dann, Tantchen, Mutti wartet auf mich, sie braucht meine Hilfe, wir bekommen Einquartierung.«

Magarete protestierte: »Bleib doch wenigstens noch zu Mittag, es gibt so schöne Karbonade, mit Sahnesoße und Erbsengemüse.«

»Nein, nein, aber danke. Tschüss bis morgen, Tante Gretel, dann bleibe ich bestimmt länger, wie sonst immer.«

Mit diesen Worten radelte Marta vom Hof.

 

Am nächsten Tag hielt Marta ihr Versprechen. Sie half ihrer Mutter noch, die sechs freien Zimmer bezugsfertig zu machen und durfte dann mit Fritz auf seinem Einspänner zu ihrem seit jeher zweiten Zuhause, nach Grünheide fahren.

Fritz hatte Annemarie zwei Zentner Kartoffeln gebracht, sogar schon die neuen Frühkartoffeln.

Er sagte mit ernster Miene zu Marta: »Geh schon auf den Kutschbock und pass auf Lotte auf, dauert nicht lange«.

Mit diesen Worten schnappte er sich den letzten schweren Jutesack vom Wagen und trug ihn in die Wirtschaft. Er stellte den Kartoffelsack, nachdem er ihn langsam von der Schulter genommen hatte, auf die sauberen Fliesen in der Küche ab. Weniger behutsam griff er Annemarie mit gewohnter Hand in ihren prallen, festen Hintern und sagte dabei: »Bis heute Abend, Mariechen, Marta kann in Grünheide bleiben und Alfred die nächsten drei Wochen beschäftigen, wenn sie will. Für dich besorge ich noch in diese Woche eine Hilfe für Küche und Service, dann hast du mehr Zeit für dich und hoffentlich auch für mich.«

Er beugte sich von hinten über die etwas kleinere Frau und küsste sie voller Hingabe. Er stierte sie mit diesem immerwährenden blöden Quantum Leidenschaft in den Augen an, das Verliebte so an sich haben.

Annemarie blieb diesmal ungewohnt abweisend. Sie sagte nur, ohne seinen Kuss zu erwidern: »Ja gut, Fritz, wenn es bei dir geht, bis heute Abend, denn wir müssen unbedingt miteinander reden.«

 

Marta jauchzte vor Freude. Den ganzen Weg vom Marktplatz in Johannisburg bis nach Grünheide ging Lotte fast nur im Galopp. Manchmal sogar stellte sich Fritz halb auf und gab Lotte die Peitsche, aber ohne sie zu treffen. So kamen sie mit dem Fiaker in vollem Trab auf dem Großenhof an. Kurze Zeit nur auf einem Rad, nahmen sie die scharfe Kurve durch die Gott sei Dank offene Toreinfahrt.

Fritz brachte mit einem Brrrrrrrrr und angezogenen Zügeln die vor schweiß triefende, dampfende Lotte zum Stehen. Er holte aufgeregt seine goldene Taschenuhr aus der Weste und schaute auf das Erbstück seines Vaters. Er schüttelte die Uhr kurz und hielt sich das goldene Gehäuse ans Ohr, sie tickte gleichmäßig.

»Marta, das glaubst du nicht. Stell dir vor, wir haben einen neuen Rekord aufgestellt. Lotte hat uns in genau 14 Minuten und 20 Sekunden die acht Kilometer über den Wikop nach Hause gebracht, so schnell waren wir noch nie.«

Marta und Fritz ließen ihre rechten Handflächen kurz und kräftig zusammenklatschen. Das machten beide öfters, besonders wenn ihnen etwas gut gelang. Fritz sprang vom Bock.

»Spann bitte Lotte aus und reibe sie trocken, gib ihr ein wenig Hafer und Wasser, aber frisches aus dem Brunnen, und nimm den Pferdeeimer. Ach, und übrigens, du bist meine Allerbeste.«

Ohne eine Antwort abzuwarten ging Fritz gut gelaunt in sein Haus. Es war schon morgens halb zehn im Deutschen Reich und sein Magen knurrte fürchterlich vor Hunger.

Marta wischte gerade Lottes Flanken trocken, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Sie erschrak fürchterlich, auch Lotte hieb kräftig mit dem rechten Huf nach hinten aus, dass es nur so pfiff. Marta schimpfte: »Bist du verrückt geworden, uns so zu erschrecken! Du weißt wohl gar nicht, wie gefährlich das ist, wenn du von hinten an ein Pferd herangehst, ohne es anzusprechen?«

Alfred antwortete gelassen: »Oh, oh Marta, du bist so ein hübsches Mädchen. Du hast zwar einen dicken Pferdeschwanz auf deinem Rücken, aber ich wusste gar nicht, dass du ein Gaul bist. Wieher doch mal für mich.«

»So Bursche, jetzt hau ich dir eine rein.«

Marta schmiss richtig wütend das Tuch auf die Erde und jagte, mit hin und herfliegendem Zopf dem flüchtenden Großstadtbengel in Richtung Dorfstraße hinterher, holte ihn aber nicht ein.

Alfred lief einfach zu schnell, obwohl er die ollen Holzlatschen, auch Klumpen genannt, an den Füßen trug. Marta gab auf, blieb stehen und stemmte beide Fäuste in die Hüften.

»Du kannst jetzt sofort herkommen und das Pferdegeschirr im Stall aufhängen, mir ist das immer zu schwer. Ich bring Lotte auf die Koppel hinter das Haus und dann zeige ich dir mein Dorf, du krepliger, dammiger Begel.«

 

Beide gingen auf der Dorfstraße langsam nebeneinander her in Richtung Turoscheln. Marta erklärte: »Fast alle Dorfstraßen wurden nach 1933 mit diesem großen Kopfsteinpflaster belegt, auf dem wir gerade gehen. Unser Dorf ist 1000 m lang und genau nach 500 m ist ein Hakenkreuz mit kleinen Granitsteinen in der Mitte der Straße eingearbeitet. Fritzi sagt, das bleibt für die Ewigkeit und nicht nur für tausend Jahre. Na da staunst du wohl, was es bei uns alles gibt? Sieh mal, da hinten steht unser Spritzenhaus, falls es mal brennt. Gegenüber ist die Hökerei Sobotka, bei ihm kaufen wir alles, was man zum Leben braucht. So Grundnahrungsmittel, Kerzen, Nadeln, Petroleum, Süßigkeiten, Soda, Schuhwichse, manchmal Flaschenbier, selten Schnaps.«

Flüsternd fügte sie hinzu: »Den Wodka schmuggelt Onkel Fritzi von seinen polnischen Freunden über die grüne Grenze zu uns rüber, aber Psssst.«

Marta legte ihren Zeigefinger senkrecht mitten auf den Mund und fügte noch leiser hinzu: »Das ist streng verboten und wird auch von den Gendarmen hart bestraft. Außerdem ist es hier im Moment nicht gerade modern, mit den Polacken herumzumachen, die wollen uns nämlich überfallen. Aber du gehst ja selber in die Schule, da brauche ich dir wohl nicht alles klein in klein zu erklären. Ich zeige dir nun erst einmal unsere interessantesten Einwohner von Grünheide.«

Sie drehte sich dabei zu Alfred und ging leicht rückwärts hüpfend.

»Dort drüben wohnt der Stellmacher Sadowski, neben ihm sein Vater, der alte Sadowski, er wohnt ganz alleine im Haus. Jeder weiß, dass er heimlich im Wald Kartoffelschnaps brennt. Wenn der Wind gut steht, dann stinkt es davon bis ins Dorf. Auf der anderen Seite der Straße kommen wir gleich an Hempels vorbei, in diesem runtergekommenen Katen leben elf Kinder mit ihren Eltern und Großeltern. In den Nachbardörfern Fichtenwalde und Tannenheim, die zu unserer Gemeinde gehören, wohnen noch mindestens zehn Hempel-Familien, hier ist alles Hempel-verseucht. Onkel Fritzi sagt, die taugen alle nichts, nur Tagelöhner und Strolche und ein bischen Inzucht ist wohl auch dabei. Übrigens, Sadowskis gibt es auch eine ganze Menge. Ein Bruder vom alten Sadowski besitzt gleich neben Mamas Gaststätte in Johannisburg eine Ausspannung, er lebt alleine und ist immer sehr nett zu mir und meiner Mutter. Mmh, Inzucht? Genau weiß ich aber auch nicht, was das bedeutet. Weißt du es?«

Alfred grinste schlau.

»Na klar, in Berlin kennt das jeder. In-zucht, das sagt das Wort doch schon, die waren alle schon mal im Zuchthaus. Das sind vom Staat verurteilte Verbrecher, aber bestimmt nichts Schweres.«

Marta, nun etwas gebildeter, erklärte ihrem Begleiter: »Gleich neben Hempels wohnt da noch die Familie Gelsing mit noch mehr Kindern, 14 zusammen, auch alle nicht die Schlausten. Herr Gelsing ist Totengräber und Gemeindediener, die zählen aber trotzdem zu den Dorfärmsten. Onkel Fritz sieht es nicht gerne, wenn ich mit den Gelsing-Kindern spiele.«

Trotzdem gingen sie ein Stück auf das Haus zu. Frau Gelsing saß auf der obersten Stufe der durchgetretenen Holztreppe. Die stämmige Frau umfasste mit beiden Armen ein großes Schifferklavier und spielte mit einem qualmenden Zigarrenstumpen im Mund alte Volkslieder.

Marta meinte: »Wahrscheinlich beruhigt sie damit ihr Jüngstes, das im von der Gemeinde geschenkten Kinderwagen liegt. Hör bloß mal, wie es plärrt. Alle anderen Gören sind wahrscheinlich am See baden oder arbeiten oder machen beides oder auch gar nichts. Guten Morgen, Frau Gelsing.«

Beide Kinder grüßten freundlich. Frau Gelsing antwortete nicht, sie nickte lediglich leicht mit dem Kopf, ohne mit der Musik aufzuhören.

»Stell dir einmal vor,« wieder flüsterte Marta in ihre vorgehaltene Hand, »die meisten Gelsingkinder haben keine Schuhe, auch nicht im Winter, so arm sind die.«

Sie kamen am Dorfende an, Marta erklärte weiter.

»Hier wohnt der Schmied und Schlosser Heinz Bialuch, der ist mit Fritzi befreundet, sie spielen oft zusammen Skat in der Hökerei. Der alte Sobotka und Dorflehrer Traubold Pitkern, die beiden sind auch immer dabei. In der Viererrunde geht es dann meistens hoch her, nicht selten spielen sie bis zum frühen Morgen. Tante Magarete gefällt das gar nicht, sie schimpft dann immer mächtig, jedoch ohne Erfolg. Nach ihrer Meinung ist Kartenspiel Teufelswerk, man kann dabei ganz schnell sein Haus und Hof verlieren. Und diesen Spruch wiederholt sie immer und immer wieder, wie eine Gebetsmühle. Das ist so langweilig und ändert rein gar nichts an der Situation.

Ich habe auch schon oft zugesehen, wenn Bialuch, du weißt, unser Schmied und Schlosser, die Pferde beschlägt. Ich mag den Geruch von verbranntem Horn. Du glaubst gar nicht, wie geschickt der Mann die langen Hufnägel einschlägt. Das erste Mal konnte ich gar nicht hinsehen, da dachte ich immer, die Nägel kommen auf der anderen Seite vom Huf wieder heraus. Aber das ist nicht so und für die Pferde schmerzlos, die merken nichts.

So, nun komm, die anderen Höfe sind nicht so interessant, die meisten sind einfache Tagelöhner oder Waldarbeiter.

Dort drüben am Waldrand ist noch unser Friedhof. Bis zum Kirchspiel nach Turoscheln sind es ungefähr acht Kilometer. Onkel Fritz fährt da jeden Sonntag hin, wir sind hier alle evangelisch. Ich bin auch schon oft mitgefahren, obwohl ich ja eigentlich ein Stadtkind bin. Der Pfarrer kann so schöne alte Geschichten aus der Bibel erzählen. Nächstes Jahr gehe ich hier zum Konfirmationsunterricht und nicht nach Johannisburg, das ist mit meiner Mutter so abgesprochen.

Siehst du da in der Mitte auf der Wiese die Feldscheune?«

Marta breitete ihre Arme weit aus.

»Das ganze flache Land noch dahinter gehört uns, das ist die Waschikowa, die geht fast bis nach Fichtenwalde rüber. Ja, sogar das Gras hat hier einen Namen: Waschikowa. Ich glaub, das heißt Bleiche.«

Stolz fügte sie hinzu: »Die Weide hinter unserem Gehöft gehört auch noch Fritzi. So, jetzt gehen wir zurück zum Großenhof, der heißt schon nicht umsonst so. Fritzi, Pitkern, Bialuch und Sobotka sind in der Gegend die Wohlhabendsten. Nach dem Essen zeige ich dir noch meine äußerst gefährliche Badestelle am Niedersee, das ist nicht weit von hier.«

Alfred ging die ganze Zeit schweigend, aber aufmerksam zuhörend neben der pausenlos erzählenden Marta her. Dann unterbrach er sie nachdenklich.

»Weißt du, Marta, am Anfang habe ich gedacht, hier möchte ich nicht tot überm Zaun hängen. Aber es ist wirklich sehr, sehr schön bei euch. Ihr lebt mitten in der Natur, vollkommen ohne Hast und Hektik. Nur der Vogelgesang ist zu hören und die eigene Stimme. Was für eine Ruhe gegenüber dem ganzen Trubel bei mir zuhause in Berlin. Und eine Frau mit dicker Zigarre im Mund, so etwas habe ich auch noch nie in meinem Leben gesehen. Und ihre Musik mit dem Schifferklavier, Donnerwetter, richtig gut hat sich das angehört «

 

Zu Mittag gab es auf dem Großenhof einen großen Berg Kartoffelpuffer, bestreut mit reichlich Zucker, dazu in tiefen Tellern Mehlklütenkirschsuppe.

»Bis in zwei Stunden, Tante Grete, ich geh mit unserem Besuch zum See baden. Um die Gänse kümmere ich mich danach, ja?«

Ohne eine Antwort abzuwarten sprang Marta nach dem Essen vom Küchenstuhl hoch.

»Ich hole uns noch zwei Handtücher.«

Alfred stand gehorsam auf und lief seiner Cousine achselzuckend hinterher.

»Was soll ich machen: Führer befiel, wir folgen dir.«

Magarete schüttelte mit krauser Stirn ihren Kopf.

»Geht mir ja nicht mit vollem Magen ins Wasser. Marta, pass ja auf Alfred auf, du weißt, der See ist tief.«

Die beiden Kinder hörten schon lange nichts mehr, sie befanden sich bereits lachend auf der Dorfstraße. Sie liefen an der Schule vorbei, auch den Adolf-Hitler-Platz ließen sie schnell hinter sich. Weiter gingen die beiden in Richtung Wiartel, dann gab es nur noch dichten schattigen Fichtenwald. Keine achthundert Meter vom Grünheidener Ortseingangsschild entfernt gelangten sie auf einem schmalen Fußweg zur Badestelle. Viele Kinder und Jugendliche tummelten sich bei herrlichem Sonnenschein im Wasser und auf der Bleiche. Die meisten von ihnen kannte Marta. Sie grüßte immer wieder, auch ein wenig stolz, hier mit diesem Hahn aus der Großstadt aufzukreuzen. Beide blieben aber trotzdem etwas abseits von den anderen.

Marta sagte: »Bevor wir baden gehen, muss ich dir noch eine wahre Geschichte über den Niedersee erzählen, du kannst dann selber entscheiden, ob du dann noch im See herumpaddeln möchtest.«

Sie setzten sich nur ein paar Meter hinter dem Weg ins Gras. Alfred ließ sich atemlos dicht neben sie fallen und dachte bei sich: Mann, hat die eine Kondition. Über die Strandwiese bis zum Ufer lagen gut vierzig Meter.

Marta begann mit ernster Miene: »Die Alten sagen, dass genau hier, in der Mitte vom Niedersee ganz, ganz früher ein Kirchdorf, größer noch als Grünheide, stand. Die Bewohner sollen so trunksüchtig und sündig untereinander gelebt haben, dass eines Nachts der gesamte Ort vom Niedersee umschlossen wurde und durch seine Sündenlast im Wasser bis auf den neunzig Meter tiefen Grund versank, mit Mann und Maus, auf Nimmerwiedersehen. Der Hügel, auf dem wir sitzen, heißt Quaduxenbarg. Quaduxen sind Frösche, weißt du, und genau hier wurden die Dorfziegen mit Fröschen gefüttert, die Vierbeinigen, versteht sich.«

Verschmitzt zwinkerte sie kurz mit beiden Augen.

»Zu einer bestimmten Stunde und Jahreszeit hört man im See auch heute noch Frösche im Takt quaken und laute unheimlich klingende Jammergeräusche schallen über das Wasser. Aus der Tiefe steigen immer wieder riesige Luftblasen auf, die so groß sind wie unser Marktplatz in Johannisburg. So manch ein Fischer aus Grünheide und der Umgebung ist beim Nachtangeln voller Schrecken unter Zurücklassung seiner Fanggeräte vom See geflohen. Ziegen gibt es in unserer Gegend, ach, was sage ich, in ganz Masuren schon lange nicht mehr. Sie folgten blind den Rufen der Frösche und sind alle ersoffen, zack und weg. Ziegen können nämlich nicht schwimmen. Weiterhin erzählt die Sage, dass der See jedes Jahr ein Menschenleben fordert und auch bekommt. Wer vor Johanni hier in den See springt, wird von faulenden, blassen Leichenhänden ehemaliger Einwohnern des versunkenen Dorfes an den Beinen in die Tiefe gezogen und sofort vom altem Kirchturm aufgespießt. In diesem Jahr gab es noch kein Opfer, also rate ich dir, pass gut auf dich auf.

Allerdings, das Johannesfest, wir begehen es immer am 21. Juni zur Sonnenwende, ist ja schon gewesen, obwohl keiner weiß, ob die Kirchturmspitze das weiß.«

Alfred verging das Baden ganz und gar nicht.

»Los, Marta, komm jetzt und sei kein Frosch, ich möchte ins Wasser. Wenn es geht, sofort. Genug jetzt mit den Märchen und den Quaduxen.«

Er zog sich geschwind sein Hemd über dem Kopf aus und lief, nur mit Badehose bekleidet, leicht bergab an den See.

»Komm jetzt, du blasse Henne, wir tauchen, bis wir die Kirchturmuhr finden. Ich möchte sehen, was uns die Glocke gerade geschlagen hat.«

Auch Marta zog sich ihr leichtes Sommerkleid aus und folgte Alfred, vor Freude jauchzend. Nach nur wenigen Metern sprangen beide fast gleichzeitig kopfüber in das dunkle Wasser.

Hundert Augen verfolgten die beiden neugierig.

 

Am späten Abend zog ein schweres Gewitter auf, es blitzte und donnerte gewaltig von allen Seiten um Grünheide herum. Oma Frederike umklammerte mit ihren langen knöchrigen Fingern ihre vom häufigen Gebrauch gezeichnete Bibel. Sie fürchtete sich unendlich vor den Naturgewalten und las halblaut, scheinbar auswendig, aus dem Buch der Bücher.

 

Bibel, altes Testament,

Psalm 23, Vers 1 bis 6

 

Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auf einer grünen Aue, und führet mich zum frischen Wasser,

er erquicket meine Seele, er führet mich auf rechter Straße um seines Namens Willen.

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn Du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.

 

Frederike schaute von der Seite aus dem Küchenfenster zum Stall hinüber. Viele kleine und große Blitze erhellten kurz und grell unwirklich den Hof, ja ungleich schaurig mit kaltem Licht, ansonsten war es stockdunkel da draußen. Noch regnete es nicht.

Sie fluchte leise: »Magarete und Herbert beruhigen die Tiere im Stall und ich steh hier alleine nur mit Gott und meiner armen alten Seele, keiner kümmert sich um mich. Dammelig noch mal, das war schon immer so, meine Angst nimmt mir niemand nich.«

Wie aus dem Nichts öffneten die Wolken ihre Pforten, Sturmböen beugten die jungen Bäume auf dem Hof bis tief auf den Boden. Der Regen prasselte sinnflutartig gegen die Fensterscheiben. Frederike wiech erschrocken vom Fenster zurück und ließ sich saft- und kraftlos auf den Küchenstuhl fallen. Hilfe suchend hielt sie ihre kleine Bibel fest in den Händen. Bei jedem neuen Blitz zuckte sie immer wieder instinktiv zusammen. Hauptsache, es schlug nicht auf dem Hof ein.

Sie betete inbrünstig: »Lieber Gott, lass diesen Krug an uns vorbeigehen.«

 

Alfred schlief bei Marta im Zimmer auf dem Dachboden, ihre Betten standen sich an den Wänden gegenüber. Marta flüsterte leise und genauso ängstlich wie Frederike.

»Oh, ich sag dir Alfred, wenn Fritzi zu Hause wäre, dann müssten wir jetzt aufstehen und uns anziehen. Er mag Gewitter genauso wenig wie ich und jedem normalen Menschen geht es wohl genauso, glaub ich. Haaallo!«

Alfred bewies einen festen Schlaf, das Naturspektakel kümmerte ihn überhaupt nicht. Na, er tat jedenfalls so.

Marta überbrüllte kurzerhand das ständige Donnergrollen: »Alfred, komm jetzt sofort in mein Bett und beschütze mich, sonst sterbe ich auf der Stelle vor Angst, das schwöre ich dir.«

Alfred gehorchte wirklich nur widerwillig, schläfrig kroch er unter Martas warme Bettdecke. Augenblicklich umschlang das Mädchen wie ein Klammeraffe ihren Cousin.

»Bilde dir bloß nichts ein. Wäre Fritzi da, würde er mich so beschützen, wie er es schon viele Jahre vor dir getan hat«, log Marta.

Sie beruhigte sich augenblicklich und entspannte merklich, obwohl das Gewitter unverdrossen weiter tobte. Das Mädchen blieb eng an seinem Körper liegen, sodass er deutlich ihren Herzschlag spüren konnte. Jahrelang würde sich dieser unvergleichliche  Moment in seiner Erinnerung einnisten, ohne je zu verblassen. Alfred atmete nun schon zum zweiten Mal den angenehmen Geruch seiner Cousine ein. Seine Nase vergrub sich regelrecht in Martas Haarfülle.

»Du hast ja schon einen richtigen Busen, der beult mich nämlich gerade nach innen.«

Marta reagierte darauf überhaupt nicht. Nach endloser Zeit flüsterte sie, schon im Halbschlaf: »Hoffentlich bekomme ich nicht eine so große Brust wie meine Mutter hat. Sie sagte mir mal, das ist nur gut für die Männer, für uns Frauen aber eine lebenslange Last.«

Augenblicklich versank Marta in einen tiefen Schlaf. Alfred blieb noch lange wach und genoss diese niemals zuvor erlebte Nähe eines anderen Menschen. Er besaß als Einzelkind weder Bruder noch Schwester und irgendwie fühlte er auch, dass das, was gerade jetzt passierte, etwas ganz anderes in ihm wachrief, ohne genau die Bedeutung zu kennen.

Das Gewitter war längst schon über den Niedersee abgezogen, aber Alfred konnte oder wollte immer noch nicht einschlafen.

Was bin ich doch für ein Glückspilz, dachte er und fühlte sich dabei überaus ritterlich und immer noch hellwach. Er beobachtete, wie Marta anfing, gleichmäßig zu schnarchen. Nein, es war kein Schnarchen, eher hörte es sich an wie ein leises langgezogenes Fauchen einer Katze. Was für wunderschöne Musik. Allein der Arm schlief ihm ein, auf dem Marta lag. Es kribbelte fürchterlich, doch er hielt den Schmerz tapfer aus. Alfred riskierte auch nicht die geringste Bewegung, aus Angst, das Mädchen könnte wach werden und das jetzige Bild unwiederbringlich zerstören.

Ohne etwas dagegen tun zu können, bekam er auch noch eine Erektion, wie unangenehm, wie peinlich. Alfred begann Gänse zu zählen, von denen es in Grünheide sicher mehr gab als Einwohner. Er lächelte bei dem Gedanken, dass er die beiden Störche, die in dem wagenradgroßen Nest auf dem Stalldach des Großenhof brüteten, für Gänse gehalten hatte und an Martas lautes Lachen darüber. Sie konnte sich gar nicht wieder einrenken, sie bog sich und hielt sich den Bauch mit beiden Händen. Mit Tränen in den Augen belehrte sie ihn: »Hast du etwa schon mal was von Klappergänsen gehört? Ich kenne nur Klapperstörche, du Dummkopf.«

Alfred schloss ganz langsam, fast in Zeitlupe, seine Augen. Er dachte noch, ja wirklich, Marta, du kannst so verdammt herrlich lachen, wie kein anderes Mädchen auf der Welt.

Im nächsten Moment schlief der Junge tief und fest.

 

Fritz Heinrich verstand die Welt nicht mehr, er ging wie ein angeschossener Elch in der leeren Gaststube auf und ab. Blitze von draußen erhellten immer wieder sein aschfahles Gesicht. Nur drei Worte brachten ihn so total aus der Fassung, die Annemarie ihm seelenruhig an den Kopf geworfen hatte: »Ich werde heiraten.«

Fritz stand vor ihr wie ein kleiner bockiger Junge. Er fragte, leiser werdend, aber mit vorwurfsvoller Stimme: »Annemarie, warum?«

Draußen prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben. Sofort nach einem Blitz krachte es ohrenbetäubend, als würden Blechplatten aneinander bersten. Annemarie schaute angsterfüllt auf die Straße, sie sagte leise, aber mit fester Stimme: »Ganz in der Nähe wird der Blitz eingeschlagen haben, was meinst du?«

Fritz blieb teilnahmslos. »Ja, du hast Recht, Marie, in mein Herz hat er eingeschla…«

Annemarie ließ ihn nicht ausreden.

»Was willst du von mir, Fritz Heinrich? Ich bin seit über zehn Jahren deine Gespielin, meinetwegen auch deine Hure, ansonsten aber nichts weiter. Ich bin schon über 30 Jahre alt und will endlich auch eine Familie, bevor ich eine krumme Frau bin. Immer wenn du dich in der Nacht von mir wegstiehlst, bin ich einsamer als ein Hund im Wald oder der Mann im Mond. Außerdem braucht meine Tochter einen Vater, der sich kümmert und nicht nur einen Onkel. Das geht so nicht mehr weiter und ich will das auch nicht mehr.«

Nach einer endlos scheinenden Stille sprach Annemarie teilnahmslos weiter: »Obersturmbannführer Hans Peter Perschall, du weißt doch, der sich schon seit ein paar Wochen immer wieder im Haus einmietet, hat mir gestern einen Heiratsantrag gemacht.«

Sie streckte ihm die rechte Hand entgegen und Fritz schaute nur kurz und angewidert auf den goldenen Ring, auf dem ein kleiner falscher Diamant funkelte. Annemarie machte den Versuch, sich zu entschuldigen, denn so viele vertraute Jahre mit ihrem Schwager ließen sich nicht einfach so wegwischen. Sie begann abwechselnd auf ihre Hände und dann zu Decke schauend zu reden: »Hans Peter Perschall ist ein Spinner, aber ein lieber Spinner. Weißt du, was er meint, wenn er sagt, wir hier in Ostpreußen sind nicht das Ende vom Reich, sondern erst der Anfang? Stell dir vor, wie süß, er will mir so schnell wie möglich die Sterne vom Himmel holen und die ganze Welt zu Füßen legen. Außerdem besitzt er gute Manieren und einen Haufen Geld. Er meint, wenn wir zusammenkommen, brauche ich nie wieder so schwer zu arbeiten wie gerade jetzt.«

Fritz Heinrich wandte sich ohne ein Wort zu erwidern tief gekränkt zur Tür.

»Bitte, Fritzi, es tut mir so weh, alles tut so weh.«

Annemarie flehte ihn an, dicke Tränen kullerten über ihr Gesicht: »Bitte, bitte lass uns auch in Zukunft noch gut miteinander sein, auch wegen der alten Zeiten. Es ist eine Chance für mich, vielleicht die letzte, gönn mir ein Stück Glück vom großen Kuchen des Lebens.«

Fritz verließ den Raum, ohne ein einziges Wort zu erwidern. Hinter ihm flog die Eichentür zu, dass es nur so knallte. Er dachte, vor Eifersucht kochend: Du kommst schon wieder angekrochen, früher oder später.

 

Der nächste Morgen schob die schwarzen Schatten der Nacht gnadenlos beiseite. Die Luft war klar und rein, als hätte es nie ein Gewitter gegeben. Noch lagen über Grünheide flachliegende dicke Nebelschwaden, besonders über den Wiesen und den Höfen bis hin an den Waldrand. Eine tiefe, innige Ruhe lag über dem Land. Wohl ein Moment für die Ewigkeit, wie ein Foto oder mit einem letzten Pinselstrich entstandenes Gemälde, so wunderschön gewöhnlich und doch einmalig.

Gerade jetzt machte sich Prinz auf, den Großenhof durch ein Loch im Staketenzaun zu verlassen. Er ging schwerfällig mitten auf der Dorfstraße in Richtung Mittenheide. Nach zwanzig Metern blieb er unvermittelt stehen und schaute zurück zum Grundstück, das er so viele Jahre niemals aus den Augen gelassen hatte. Er konnte die Hasen kaum zählen, die er vor die Haustür gelegt hatte und die verjagten Füchse schon gar nicht. Dann ging er wackelig weiter. Zwei Amseln unterhielten sich lautstark, ansonsten war völlige Morgenstille im Ort. Prinz schaute weder nach links noch nach rechts, das Gehen bereitete ihm große Anstrengung. Dann, kurz vor dem Friedhof der Menschen, bog er rechts ab auf die Waschikowa. Der alte Hund quälte sich regelrecht durch das hohe Gras, das kurz vor dem zweiten Schnitt stand, bis er endlich vor der torlosen Waldscheune angekommen war. Er hob das Bein und pinkelte gegen die verwitterten Bretter. Genau hier hatte er mal mit einem Fuchs, der viel größer gewesen war als er selber, gekämpft. Nicht eine Gans ging ihm damals verloren. Wie im Rausch hatte er den roten Räuber bis rüber nach Tannenheim verjagt.

Jetzt suchte er sich immer wieder einen neuen Platz, auf dem er sich hinlegte und wieder aufstand, sich im Kreis drehte, immer und immer wieder. Bis er dann endlich die richtige Stelle gefunden hatte. Prinz drehte sich noch einmal im Kreis, bevor er sich endlich zufrieden hinlegte und einrollte wie ein Igel. Nach ein paar Sekunden hob er seinen Kopf von den Pfoten und lauschte in den Morgen. Er leckte sich kurz über das vom Tau durchnässte Fell. Dann erhob Prinz seinen Kopf weit nach oben, ohne aufzustehen und begann ein letztes Mal kräftig zu jaulen, lautstark, ja respekteinflößend wie ein alter Wolf. Hunde von den nahen Gehöften antworteten ihm mit aufgeregtem Bellen. Zufrieden legte Prinz seinen Kopf ganz langsam auf die Seite und starb mit offenen Augen.

 

Fritz hatte die ganze Nacht schlecht geschlafen, sich im Bett ruhelos hin und her gewälzt. Zu tief saß der Schmerz darüber, das Annemarie ihn so einfach abserviert hatte. Der Morgen dämmerte schon und als er noch einmal kurz vor dem Einschlafen war, hörte er draußen sämtliche Hunde im Dorf und der Umgebung bellen. Hoffentlich macht nicht wieder ein Wolf die Runde, dachte er noch, dann war er ins Reich der Träume zurückgekehrt.

Wie jeden Morgen war Fritz sein erster Gang nach dem Aufstehen vor die Tür, die auf den Hof führte, um einen kurzen prüfenden Blick über die Gebäude zu werfen. Alles in Ordnung, er konnte in Ruhe frühstücken. Das ihm sein Hund Prinz nicht entgegenkam und begrüßte, wunderte ihn in diesem Moment noch nicht. Der alte Schwerenöter war öfter mal in der Gegend unterwegs und besuchte seine „Damen“, um sein Erbgut weiterzugeben. Spätestens zu Mittag würde er vor der Tür sitzen und darauf warten, die Reste des Mittagessens zu bekommen.

Schweigend nahm Fritz sein Frühstück ein und trank seinen Kaffee. Er hörte dem Gesabbel seiner Frau gar nicht zu, seine Gedanken kreisten immer wieder um den gestrigen Abend und was Annemarie zu ihm gesagt hatte. Er würde sich damit nicht zufrieden geben, das war sicher. Aber erst einmal wartete die Arbeit auf dem Hof und Feld auf ihn, Magarete drängelte schon.

Als Fritz zu Mittag nach Hause kam, um zu essen, tat er die Reste der Kartoffeln mit ein bischen Soße wie gewöhnlich in den Napf von Prinz und stellte diesen vor die Tür. Dann pfiff er nach seinem Hund. Aber Prinz ließ sich nicht sehen. Der treibt es aber doll heute, dachte Fritz und begab sich wieder an die Arbeit.

Als Prinz am Abend immer noch nicht zu sehen war, fing Fritz an, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Nach dem Abendessen sagte er zu seiner Frau, er gehe noch mal raus, den vermaledeiten Hund suchen. Vielleicht war ihm was passiert, er in eine Falle getreten und kam allein nicht mehr frei. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, erst der Ärger mit Annemarie und jetzt war der Köter auch noch weg. Er wollte sich nicht eingestehen, dass er an dem alten Flohteppich hing. Wenn einer von beiden im Dorf unterwegs war, wussten die Leute, das der andere nicht weit weg war.

Fritz suchte im ganzen Dorf, befragte die Nachbarn, aber keiner hatte Prinz gesehen. Schließlich gelangte er zu der alten Waldscheune und fand den Hund, eingerollt wie ein Igel, im hohen Gras liegen. Er kniete neben dem Leichnam und strich noch einmal liebevoll über das Fell. Eine einzelne Träne löste sich aus seinem linken Auge.

„Na, alter Junge, hast es geschafft. Dann wollen wir dich mal ordentlich beerdigen,“ sagte er zu dem toten Tier.

In der Scheune fand er einen alten verrosteten Spaten, mit dem er mühsam an der Seite des Gebäudes ein Loch aushob, den Hund hineinlegte und wieder zuschüttete. Als er fertig war, nahm er seine Mütze ab und sandte einen letzten Gruß an seinen langjährigen Weggefährten.

Dann stellte er den Spaten zurück und ging schweren Schrittes nach Hause.

 

 

Bibel Altes Testament, Sprüche, 11. Kapitel, Vers 22

Ein schönes Weib ohne Zucht ist wie eine Sau mit einem güldenen Haarband.

 

Marta kämpfte mit den Tränen. Nach ihrer Meinung besaß sie weder bei sich zu Hause in Johannisburg noch hier auf dem Großenhof etwas Ordentliches zum Anziehen. Ihr Kleiderschrank erwies sich praktisch als leer. Der bunte Rock war ihr zu rau, das Kleid zu lang, die Bluse zu eng und so weiter. Hoffnungslos ließ Marta sich auf den Stuhl in ihrem Zimmer fallen, umringt von achtlos hingeworfenen Klamotten. Heute am Erntedankfest wollte sie doch besonders schön sein für ihren Alfred aus Berlin, in den sie sich bis über beide Ohren verliebt hatte. Auch weil er am Sonntag wieder in die Hauptstadt abreiste. Wie gerne würde sie ihn begleiten und nicht nur bis zum Bahnhof. Heute wollte sie einen Kuss von ihm, so wie sich Verliebte im Kinofilm busseln, richtig nass und lange auf die Lippen. Sie bekam Herzklopfen bei dem Gedanken und schließlich hatten sie ja auch schon eine ganze Nacht lang zusammen im Bett gelegen. Von wegen gleich eingeschlafen, sie hatte ganz genau mitbekommen, dass sich da etwas Hartes gegen ihren flachen Bauch drückte.

 

Sechzehn Uhr ging es los, der Mittenheidener Spielmannzug formierte sich und marschierte, laut musizierend, vom Adolf-Hitler-Platz zum Ortsausgang und wieder zurück. Es schlossen sich viele Bürger in schmucker festlicher Kleidung an. Die vielen Gäste kamen aus den umliegenden Dörfern, aus Johannisburg, und einige Fremde reisten  sogar aus der Provinzhauptstadt Königsberg an.

Die älteren Frauen stellten stolz ihre masurischen Trachten zur Schau. Bunt behangen an Hals und Händen kamen sie daher, mit allem, was ihre Schatztruhen hergaben, insbesondere Bernsteinschmuck in allen Variationen, Ketten, Ringe Spangen usw. Bei den stattlichen Damen galt das lichte Urharz mehr als Gold und Edelsteine. Auch weil die ostpreußischen Männer vehement die Meinung vertraten, Bernstein sei warm und ehern wie eine Frauenhand.

 

»Frederike, komm doch auch mit!«

Marta bettelte ihre Oma förmlich an, doch die alte Dame ließ sich nicht erweichen. Sie winkte entschlossen ab.

»Was soll ich alte Frau da bei den ganzen Krepligen.«

Sie ging mit hängendem Kopf zurück auf ihren Hof. Nur hier fühlte sie sich wohl und sicher, auf lang vertrautem Boden, aber irgendwie wäre sie doch gerne mitgegangen.

Marta nahm Alfreds Hand und sagte: »Los, komm jetzt! Fritzi hält gleich eine Rede auf dem Festplatz«.

Beide Kinder reihten sich ungezwungen in die lange bunte Marschkolonne ein, dabei ließ Marta Alfreds Hand nicht mehr los.

 

Der große Adolf-Hitler-Platz war von der Westseite mit wohl zehn bis fünfzehn aufgestellten Bretterbuden umringt. Aus ihnen dampfte und rauchte es nach allen Seiten. Es gab dicke Brühwürste im Ring, geräucherten Fisch, Gebratenes und Gebackenes in Hülle und Fülle zu kaufen. An anderen Verkaufsständen gab es Bier vom Fass und alle Sorten hochprozentigen Alkohol. Wieder andere verkauften Wollsocken und Handschuhe, Honig, gebrannte Mandeln, Maronen und anderen Süßigkeiten, besonders für die Kinder eine Augenweide.

Fritz Heinrich trat bewusst autoritär, im gelassenen Schritt auf die ca. 8x8 Meter große ausgebretterte Tanzfläche, die ansonsten im Grünheidener Spritzenhaus trocken untergebracht, übereinander aufgestapelt lagerte.

Hinter dem Ortsbürgermeister lauerten sechs alte, jung gebliebene Musiker mit ihren Instrumenten ungeduldig auf ihren Auftritt. Dahinter wehte im leichten Abendwind am höchsten von drei Masten der masurische Stander mit der halben Elchschaufel. Daneben kräuselte sich das Leinen mit dem Wappen vom Landkreis Johannisburg: ein Wolf schleichend zwischen zwei Tannen und natürlich das seit Jahren obligatorische Hakenkreuztuch.

Fritz schaute auf die für ihn riesige Menschenmenge von mindestens 650 Leuten aller Couleur. Liebevoll umfasste er den sieben Meter hohen, tief eingegrabenen Fichtenstamm, der direkt vor ihm aufgestellt stand. Er strich mit Ehrfurcht über den glatten, extra eingewachsten Stamm, der ohne Rinde hell leuchtete. Der Bürgermeister Fritz Heinrich sprach laut und deutlich, aber auch sichtlich bewegt, ohne den Stamm loszulassen. »Männer und Frauen von hier aus der Heimat, verehrte Gäste aus nah und fern. Schaut bitte alle mit Ehrfurcht und Dankbarkeit empor. Wir haben es wieder zusammen geschafft, wie schon so viele Jahre zuvor, zur Freude unser Ahnen.«

Fritz wies mit seiner rechten Hand steil nach oben und rief in die Menge: »Die Ernte ist eingebracht, schaut her – der Plog ist gebunden«.

Am unteren Ende der schmuckvoll gebundenen Erntekrone flatterten viele bunte Bänder, an denen wertvolle Präsente auf ihre Eroberer warteten.

Fritz lächelte, als er sagte: »Jeder, der es schafft, am sieben Meter hohen Stamm hochzuklettern, darf sich ein Band abnehmen, natürlich mit dem dazu gehörigem Geschenk, gestiftet durch unsere Gemeinde. Nun aber Schluss mit langen Worten, hiermit erkläre ich das diesjährige Erntefest für eröffnet. Musiker, spielt auf!«

Die begannen auch sofort und lautstark mit einem Marschwalzer. Fritz schnappte sich seine Magarete zum Eröffnungstanz. Sie drehten Runde um Runde auf der mit Rapssamen bestreuten Tanzfläche, begleitet vom tosenden Beifall der Umstehenden.

Nach und nach gesellten sich immer weitere Paare zu den beiden, bis auch kein einziger Zentimeter mehr von den rutschigen Dielen sichtbar war.

Ja, feiern, das konnten sie, die tanzfreudigen Masuren, manchmal sogar tagelang.

Außer Hans Peter Perschall, er und noch einige andere auf dem Fest konnten sich so gar nicht freuen. Vergaß der Bürgermeister als Amtsperson nicht gerade das Wichtigste? Wo war das Heil Hitler am Schluss dieser insgesamt unwürdigen Faselei, kein Wort war zu hören vom Kampf für Volk und Vaterland und für die neue Bewegung. Man hatte ihn ja im Voraus gewarnt, dass das Deutschtum hier weit im Osten, bei den Einfachen und Ungebildeten, sehr zu wünschen übrig ließ. Eigentlich doch alles nur Polackenpack hier so dicht an der Grenze. Er setzte den Glashumpen ab und verzog dabei sein Gesicht fast schmerzlich. Selbst das Bier schmeckte wie der letzte Dreck, viel zu warm und zu süß. Dann erhellte sich sein Gesicht doch noch, Annemarie setzte sich zu ihm und trank einen Schluck aus seinem Glas.

»Oh, mir ist so warm in den ganzen Trachtenklamotten, was meinst du, wie sehe ich aus, Hansi Peter?«

Annemarie stand kurz auf und drehte sich vor ihrem neuen Freund ganz langsam einmal in der Runde. Sie präsentierte sich mit wahrem Stolz auf ihre Kleidung, die schon ihre Mutter zu derartigen Festlichkeiten austrug. Hans Peter überschlug sich fast vor Lobpreisungen. »Gefällt mir sehr, Schatz, ausgezeichnet, du siehst einfach fantastisch aus.«

Er dachte aber: Noch heute Nacht werde ich im »Goldenen Anker« deinen dicken Hintern durchpflügen, der selbst im Dunklen so weiß und hell leuchtet wie eine Bäckermütze.

Wirklich fand er Annemarie noch am attraktivsten von allen seinen Eroberungen hier in der Wildnis. Mit der konnte man auch im Bett richtig viel Spaß haben, obwohl man ihr das in der Öffentlichkeit gar nicht ansah. Da wirkte Annemarie eher keusch und bieder, aber manchmal dann auch wieder autoritär und durchsetzungsstark. Denn was sie in ihrer Pension einmal anordnete, das wurde auch genauso gemacht und nicht anders.

Allerdings, mit Heiratsanträgen war Perschall in der letzten Zeit nicht gerade knauserig. Er verteilte die billigen blank polierten, aber vergoldeten Messingringe gleich mehrfach an masurische Schönheiten.

Genau damit schien der Obersturmbannführer auch bei der Pensionswitwe vom »Goldenen Anker« großen Eindruck hinterlassen zu haben. Sie brach doch tatsächlich in Tränen aus, als er ihr vor einer Woche den Verlobungsring auf den Finger steckte.

Perschall suchte mit seiner Hand unter dem Tisch nach Annemaries Schenkel und begann diesen grob zu kneten. Annemarie schaute erschrocken nach links und rechts, hielt aber still.

Insgeheim verglich er Annemarie mit seiner zweiten Verlobten Hulda aus Sensburg. Dabei schob er seine Hand auf Mariechens Bein noch etwas höher. Was ein strammes Fleisch, dachte er.

Hulda dagegen sah eher wie eine magere Vogelscheuche aus und hatte furchtbare Angst, dass sie schon vom Schlucken schwanger würde.

Noch schlimmer fand er seine dritte Eroberung Karola, eine Bauerntochter aus Arys. Das unterbelichtete Mädchen besaß mit ihren 19 Jahren bereits Hände so groß wie Kornschaufeln. Sie wusste genau, was man mit einer »Pitschka« macht, denn ihre beiden älteren Brüder ritten sie schon frühzeitig ein und das erzählte sie ihm auch noch voller Stolz.

Am Ende bestanden alle Frauen, die er hier im Gau eroberte, keinen Vergleich mit der hübschen, sauberen Annemarie und ihrer gut gehenden Pension.

Er selbst besaß ja nicht viel, außer einem gut gefüllten Sparbuch und gewissermaßen Macht, die Hans Peter liebend gerne und bei jeder Gelegenheit zur Schau stellte. Er war sich einigermaßen sicher, die Partei und die Weiber würden ihm in Zukunft noch viel Freude bereiten und das hoffentlich überall in Europa und auf der Welt.

 

Das Dritte Reich besaß in dieser Zeit nicht nur einen Führer, sondern mindestens tausend Möchtegern-Führer, bis hinein in den letzten unbedeutenden Winkel von Großdeutschland. Perschall gehörte auch dazu.

 

Marta hielt vor Anspannung ihre Hände fest zusammen, aber das brauchte sie gar nicht. Alfred kletterte sicher wie ein Affe am glatten Stamm des Erntebaums hoch und höher, ohne auch nur einmal abzurutschen. Alle anderen vor ihm schafften es höchstens bis zur Hälfte. Gerade nahm Alfred sich ein gelbes Bändchen ab, an dem ein buntes Seidentuch hing. Sehnsuchtsvoll schaute der Berliner zu dem daneben hängenden grünen Band, an dem ein Schweizer Taschenmesser baumelte. Er klemmte sich das Tuch zwischen die Zähne und glitt rasant am Stamm herunter mit dem unerschütterlichen Gedanken im Kopf, das Messer beim nächsten Aufstieg einzukassieren.

Am Boden drängelten die Kinder, Jugendlichen und auch einige Erwachsenen an den Stamm, um immer wieder ihr Glück beim Hochklettern zu versuchen, allerdings die Meisten weiterhin ohne Erfolg. Marta machte höflich einen Knicks, als ihr Alfred das seidene Stück Stoff um den Hals band. Was für ein Bad in der Menge.

 

»Ne, ne, so geht das nicht«, schrie Fritz Heinrich schon von weitem. Pitkern hatte ihm gepetzt, dass sein Besuch aus Berlin in kürzester Zeit den ganzen Plog fast alleine abräumte. Er nahm Marta einen kleinen Korb mit Henkel aus der Hand und rührte wild schimpfend in dem Behältnis: »Sag mal, und du machst da auch noch mit, vier Tücher, Holzspielzeug, ein Kompass, Fahrradreifen, Trillerpfeifen.«

Fritz schaute am Stamm hoch.

»Alfred, komm sofort da runter und schneid ja nichts mehr ab da, du Flegel.«

Marta verbarg schnell ihr neues Seidentuch vor den Augen ihres Onkels. Fritzi gab Alfred einen Klaps auf den Hinterkopf und schimpfte nicht ohne Stolz: »Du gehst dem Stamm heute aus dem Weg und kommst ihm nicht mehr näher als zwei Meter.«

Der Bürgermeister verdrehte ihm ganz leicht das Ohrläppchen: »Haben wir uns verstanden, mein Junge, und jetzt ab durch die Mitte, und Marta kannst du gleich mitnehmen, Krepliger.«

Fritz schimpfte lauthals den beiden Flüchtenden hinterher, sodass es auch jeder im Umkreis von 500 Metern hören musste, ob er wollte oder nicht.

»Was habe ich bloß für eine schlimme Verwandtschaft, das werde ich in der Hauptstadt mit deinem Vater auswerten und natürlich mit unserem Führer.«

Diesmal ergriff Marta Alfreds Hand und die Kinder liefen schnell vom Festplatz auf und davon. Nach gut zweihundert Meter auf dem Weg in Richtung Wiartel blieben beide außer Puste stehen und schauten amüsiert zurück. Laute Musik und selbst Stimmengewirr waren noch deutlich zu hören. Sie gingen nun viel langsamer noch ein Stück auf dem Weg entlang.

Alfred ließ sich direkt am Waldrand nieder und legte sich gemütlich an einen kleinen Erdwall, wie gemacht als Rückenlehne. Er kramte sein neues Taschenmesser aus der Hose und öffnete die vielen Klingen samt Korkenzieher. Alfred forderte: »Komm doch auch zu mir, hier ist es gemütlich und der Boden ist so schön trocken.«

Marta blieb aber dennoch in einigem Abstand stehen und betrachtete staunend ihren neuen Freund. Sie kramte umständlich ihr neues buntes Seidentuch aus ihrem Kleid hervor und schüttelte es mit einer Hand auseinander, ohne ihren Cousin aus den Augen zu lassen: »Danke dafür, du kannst ja klettern wie ein Vogel fliegt, so etwas habe ich noch nie gesehen. Wieso kannst du das?«

»Ach was, so toll ist das auch nicht.«

Alfred spürte Freude und Stolz am ganzen Körper aufsteigen. Er meinte kleinlaut, ein deutscher Junge könne das eben und schaute wichtig zu den hohen Baumkronen auf, die sich nur ganz leicht im Wind bewegten.

»Ach was, zu Hause in Berlin bin ich schon seit vielen Jahren in einem Kampfsportverein in Zehlendorf. Ich habe den braunen Gürtel im Judo, der nennt sich auch 1. Kyu. Zum Warmmachen, bevor das eigentliche Training beginnt, muss jeder an einem Seil hochklettern, dass sechs Meter hoch hängt, nur mit den Armen. Wer fünfmal hintereinander der schnellste ist, braucht keinen Monatsbeitrag für den Verein bezahlen. Was meinst du, wer schon seit einem Jahr keinen Beitrag mehr berappen muss, und ich bin zweimal in der Woche auf der Matte.«

Alfred grinste breit.

Marta grinste auch, sie sagte im ruhigen Ton, aber mit schadenfroher Stimme: »Eigentlich wollte ich dich noch ein Weilchen schmoren lassen, du mein Großstadtheld. Ich würde dir jetzt aber dringend empfehlen, ganz schnell aufzustehen, ansonsten ziehen dich die Pissamenken in ihren Bau, an dem du gerade liegst und fressen dich auf mit Haut und Haaren.«

Alfred sprang hastig wie eine Sprungfeder hoch: »Oh Gott, oh Gott, ich bin ja voll von den Viechern.«

Er schüttelte etliche große rote Waldameisen von seinen Hosenbeinen, den Armen und seinem Gesicht. Marta lachte sich schräg: »Wer ist schon so dusselig und lehnt sich freiwillig an einen Ameisenhaufen. Bitte, das musst du mir glauben, so etwas habe ich noch niemals in meinem Leben gesehen.«

Alfred hüpfte aufgeregt auf einem Bein und haute sich mehrmals hintereinander seitlich über das Ohr, als hätte er nach dem Baden Wasser drin. Er schrie förmlich mit hochrotem Kopf: »Hilfe, in meinen Gehörgängen krabbelt was.«

»Meine Güte, Alfred, bleib doch mal stehen und hör auf, mit den Fingern in den Ohren zu bohren, sonst drückst du sie dir noch ins Gehirn und da bauen sie sich dann ein Nest und legen Eier.«

Marta gluckste immer wieder los vor Lachen, versuchte aber mit Mühe, ernst zu bleiben. Sie zog seinen Kopf mit beiden Händen zu sich herunter und schaute links und rechts in seine Ohren.

»Da sind keine Ameisen zu sehen in deinen dreckigen Löffeln. Ich glaube, du hast nochmal Glück gehabt, du wirst nicht sterben.«

Marta holte ein Taschentuch aus ihrer kleinen seitlich umgehängten Tasche. Vor Anstrengung knickte sie immer wieder ein, wie eine Gehbehinderte. Sie konnte einfach nicht mehr aufhören zu lachen.

Viel, viel später sagte sie immer noch mit Tränen in den Augen: „Oh Alfred, wie schön ist der Tag heute, du Schwerenöter. Aber jetzt zeige ich dir mal eine Medizin gegen Schnupfen.“

Sie ging zum Ameisenhaufen. Marta breitete das weiße Leinentaschentuch vorsichtig über den jetzt sehr betriebsamen Haufen aus. Im Nu waren viele kleine ockerfarbene Flecken auf dem Stoff erkennbar. Frau Dr. Marta nahm vorsichtig das Tuch vom Berg herunter, schüttelte die Ameisen ab und hielt Alfred den Lappen unter die Nase.

»Riech mal!«.

Alfred wandte sich angewidert ab. »Oh, wie eklig ist das denn?« Er schüttelte sich mehrmals heftig.

Marta erklärte ihm: »Das ist Ameisenpisse, die besteht unter anderem aus Ammoniak. Daran zu riechen ist gut gegen Erkältung. Das ist ein uraltes masurisches Hausrezept, besser als jede Medizin aus der Apotheke. Du, mein Schatz, bist jetzt auch voll davon. Außerdem ist bei uns der Wald die reinste Medizin, zum Beispiel Waldmei…«

Alfred unterbrach die Ausführungen seiner Freundin resignierend: »Marta bitte, bitte komm, lass uns runter zum See laufen, ich will sofort ins Wasser, mir juckt alles. Ich glaube, ich bin immer noch voll dieser widerlichen Tiere. Außerdem stinke ich ganz scheußlich nach den kleinen Biestern. Hilfe, ich bin eine Ammoniakbombe.«

 

An der Badestelle stürzte Alfred bergab laufend, sich dabei sämtliche Klamotten vom Leib reißend, nackend, wie Gott ihn schuf, kopfüber in den Niedersee. Wie befreit tauchte Alfred wieder auf.

»Komm auch ins Wasser, es ist herrlich warm.«

Marta wusste nicht, warum, aber sie zog sich auch ganz aus. Sie schaute kurz in die Runde, der Badestrand war menschenleer.

Sie schwamm mit langen Zügen zu Alfred hinaus, der sie sogleich fest umarmte. Marta fühlte seine Lippen, die sich sanft auf ihren Mund drückten. Das Paar versank dabei gemeinsam, ganz langsam drei vier Meter tief im Wasser, ohne sich zu bewegen. Vor Aufregung begann sie zu pieseln.

Ein wundervolles Gefühl. Marta spürte ein eigenartiges, noch nie dagewesenes Kribbeln am ganzen Körper, so als sei sie eingehüllt in einen Mantel aus Glückskäfern.

 

 

Altes Testament

Die Sprüche Salomon

1.Kapitel, Vers 10  

 

Mein Kind, wenn dich die bösen Buben locken, so folge nicht.

 

 

5. Kapitel

 

1939

 

Das Deutsche Reich wuchs an zu immer neuer Größe, der Anschluss von Österreich und dem Sudentenland schien selbstverständlich.

Der „friedliebende“ Adolf Hitler hielt glühende Reden. Immer und immer wieder flehte er die Polen an, einer vernünftigen Korridorlösung zuzustimmen.

Die Heimat blühte auf wie lange nicht. Die Wirtschaft brummte, besonders die Aufrüstung, es gab kaum noch Arbeitslose im Reich.

Ja, Deutschland zeigte wieder Flagge auf der Welt und machte jedem im Ausland klar, besonders den Plutokraten des British Empire und dem Weltjudentum, dass der Schandvertrag von Versailles keinerlei Bedeutung mehr für das deutsche Volk besaß.

Besonders oft betonte das der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels, bei seinen häufigen Ansprachen. Bei einer reichsweiten Radioübertragung hob Herr Goebbels die besondere Rolle Ostpreußens bei der schon jetzt zu führenden Ernährungsschlacht hervor. Mit ruhiger klarer Stimme tönte es aus dem Volksempfänger – der Goebbels-Schnauze – der bei den Heinrichs auf dem Küchenschrank stand. Magarete drehte mit dem runden Knopf das Radio auf fast volle Lautstärke und lauschte gespannt dem kleinen Kasten, der so schön sprechen konnte.

 

„Und auch die Provinz Ostpreußen nimmt im Deutschen Reich ständig an Bedeutung zu, besonders schob sich die Landwirtschaft mit beachtlichen Ergebnissen in den Vordergrund. Aus der letzten Viehzählung vom 03.12.1938 darf ich mit Stolz feststellen, dass Ostpreußen vor allen Ländern und Provinzen des Reiches mit rund 470.000 Stück den größten Pferdebestand aufweist. Ebenso wird von keinem deutschen Gau die Zahl der Enten von 285.000 Stück überboten. Ostpreußen hat weiter unter den preußischen Provinzen den höchsten Rindviehbestand mit 1,34 Millionen Stück, die meisten Gänse 639.000 Stück, die größte Zahl von Bienenstöcken, 223.000 Stück. Die Zahl der Milchkühe betrug am Zähltag 655.000 Stück, der Schweine 1,65 Millionen, der Schafe 186.000 Stück, der Ziegen 34.000 Stück und der Hühner 5,1 Millionen Stück, darunter 2,8 Millionen Legehennen.

Der Bestand an Juden vor der dritten und letzten Umsiedlung aus Ostpreußen hat hingegen erfreulich abgenommen, er beläuft sich leider immer noch auf 489 Stück, a b e r auch diesen Langnasen werden wir in kürze Flügel verleihen und letztendlich zur Landflucht verhelfen aus unseren Städten und Auen. Insgesamt erkläre ich, was für ein hervorragendes Ergebnisse für Führer, Volk und Va….“

 

»So ein Schwätzer.« Frederike erhob sich entschlossen von ihrem Stuhl und schaltete erbost das Radio aus. »Arisch oder nicht, das macht für mich keinen Unterschied und ich mag den in sich selbst verliebten Nationalsozialismus nicht. Wie ein tausendarmiger Krake breitet sich dieses Gespenst in letzter Zeit auch bei uns in Masuren aus und lässt sich nicht mehr abschütteln.«

Sie sagte halblaut zu sich selbst: »Hoffentlich wird es nicht wieder unseren Männern das Leben kosten. Wie schon einmal vor gar nicht langer Zeit: Ab in den Tod mit Jubel und Gesang für Volk und Vaterland.«

Sie spürte ganz tief im Herzen aufziehendes Unheil.

 

Überall in Deutschland gab es nur noch Gleichschritt, Hakenkreuzfahnen und Uniformen. Alles war aber auch nicht schlecht mit der neuen Bewegung.

Frederike langte mit beiden Händen nach ihrer emaillierten Blechtasse, gefüllt mit heißem Bohnenkaffee, und schlürfte den Rest genüsslich aus dem Gefäß. Meistens löffelte sie den Kaffeegrund auch noch mit etwas Zucker gleich hinterher. Sie sagte zur Magarete, die mit ihr am großen Küchentisch saß: »Diese schwarze Brühe möchte ich mindestens dreimal am Tag trinken und nicht wie früher nur einmal die Woche am Sonntag. Schön, dass man wieder richtigen Kaffee zu kaufen bekommt und nicht nur diesen ewig räudigen Kaffeeschrott saufen muss.«

Sie schlürfte noch einmal genüsslich den Rest aus der Tasse, immer und immer wieder.

»Nun komm schon, altes Mädchen, meine kleine runzlige Rike.«

Entschlossen stellte Magarete die Tassen beiseite und half ihrer Mutter liebevoll vom Stuhl hoch.

»Lass uns rausgehen, Brot backen für die nächsten beiden Wochen. Der Teig ist lange schon aufgegangen. Außerdem haben wir bald Kolonien, dann kannst du im Kaffee baden, sagt mein Fritz. Wo bleibt er bloß schon wieder? Er könnte uns wenigstens das Wasser für die Tiere vom Brunnen holen. Er hängt immer gleich zwei Eimer auf jede Seite vom Tragejoch an und mir ist das schon schwer auf die einfache Art.«

»Ja, ja Grete, dein Mann ist so stark, der könnte auf dem Acker zwei Felder gleichzeitig bestellen.«

Magarete fragte, den Kopf schräg haltend, in ernstem Ton: »Wie meinst du das, du alte hässliche Frau? Eines kann ich dir ein für alle Mal sagen, mein Mann geht nicht fremd, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«

 

Wie so oft in einer Beziehung ließ sich auch durch einfaches Totschweigen von Problemen der Bestand einer Ehe um Jahre verlängern, bei vielen sogar bis ans Lebensende.

Magarete runzelte die Stirn. Sie dachte traurig, ein Kind muss her, unbedingt, und das am besten sofort. Leider, leider wird es für mich nur ein schöner Traum bleiben. Ich bin zu alt, zu tot für neues Leben. Verdammte Scheiße, ich hab doch so oft gebetet und in der Kirche Kerzen angezündet, für mich und meinen Mann. Vergeblich.

 

Johannisburg und der Kreis entwickelten sich rasant. An allen Enden der Stadt entstanden neue Gebäude und Straßen. Arbeitslose gab es selbst hier, weit im Osten kaum noch.

Fritz verkaufte sein Heu in riesigen Ballen nach Arys. Dort befand sich der größte Truppenübungsplatz im Deutschen Reich, und der brauchte Futter ohne Ende für die Pferde. Das Heu lieferte er mit eigenem Fuhrwerk nach Johannisburg und dann ging es mit der Reichsbahn auf nicht enden wollenden Zügen weiter nach Arys, der zweitgrößten Stadt im Kreis.

Noch auf dem Halm, vor dem ersten Schnitt, prüften Inspektoren direkt vom Standort Arys kommend die Qualität der Ware und sie kauften meistens die gesamte Waschikowa leer. Die Offiziere verschwanden während der Begehung fast vollständig im Gras, so hoch stand die Wiese.

Zuhause im Paradezimmer wurden dann bei einer Kanne Bier die Verträge abgeschlossen – gutes Geld.

Mit diesem Geld veränderte Fritz die Lebensbedingungen auf dem Großenhof grundlegend. Endlich mal was los in Grünheide, die Nachbarn verrenkten sich die Hälse. Was da wohl bei Heinrichs wieder gebaut wurde?

Bialuch montierte eine 1-Zoll-Wasserleitung aus verzinktem Eisenrohr vom Brunnen in die Küche. Mit einer Handkolbenpumpe zapfte er stolz den ersten Wassereimer voll. Die ganze Familie klatschte freudig in die Hände. Auch der Lehrer Pitkern applaudierte heftig mit seiner Frau Heidi. Doch dann stemmte Heidemarie plötzlich ihre Fäuste in die Seiten und sagte entschlossen zu ihrem langjährigen Gatten: »Traubold Pitkern, nur dass du Bescheid weißt, so ein Ding will ich auch und das sofort.«

Heidemarie drängelte sich an die Pumpe. »So, jetzt lasst mich mal Wasser machen«.

Sie hängte einen leeren Wassereimer über das Rohr und pumpte, links, rechts, links, rechts. »Oh, wie leicht das geht«.

Nach wenigen Pumpenschlägen stürzte sauberes Brunnenwasser aus der Wasserleitung in den Eimer, Heidemarie schrie auf vor Freude. »Das ist ja fast wie in der Stadt, Wasser aus der Wand. Ich sage euch, das werden auf dem Land bald alle in der Küche haben, wie einfach, das Ganze«.

Sie klopfte Bialuch anerkennend auf die Schulter. »Mensch, Heinz, du bist ein Zauberer, warum bist du nicht schon früher darauf gekommen, da kannst du gleich bei mir weitermachen.«

Der bescheidene Bialuch strich sich verlegen mit Daumen und Zeigefinger über seinen buschigen Adolf-Bart, der ihm bis auf die Unterlippe reichte. Fritz verteilte Schnapsgläser und schenkte selbstgemachten Bärenfang ein.

»Einen hab ich aber noch.«

Fritz nahm vom Küchenschrank eine Papierrolle und wickelte sie auseinander. Stolz verkündete er, auf die Zeichnung zeigend: »Das wird unsere neue Waschküche auf dem Hof, mit Badewanne und Kessel für die Wäsche. Die Baugenehmigung habe ich schon. Ich sag euch, im Sommer, spätestens nach der Ernte, ist alles fertig und dann sehen wir uns alle zur Einweihungsfeier wieder.«

 

Bis weit in den Sommer belagerte die Wehrmacht mit immer mehr Soldaten und Kriegsgeräten die Johannisburger Heide, ein Manöver ohne Ende, so schien es.

Selbst in dem so beschaulichen Grünheide war der Teufel los. Ständig, bis weit in die Nacht hinein, durchfuhren getarnte Armeefahrzeuge aller Couleur den Ort. Ja, sogar riesengroße Panzer durchratterten im Schritttempo das Dorf, die aber dennoch mit ihren Ketten scharfen Abrieb auf dem Straßenpflaster hinterließen.

 

Fritz schaute vom Paradezimmer auf die Straße, alles war im Moment so ruhig wie sonst, kein Lärm, kein Nichts. Nervös fuhr er sich mit beiden Händen über sein frisch angezogenes, sauberes Hemd.

In den letzten Tagen überschlugen sich die Ereignisse auf dem Großenhof. Morgen sollte ein Oberst aus der Heeresleitung mit Gefolge als Einquartierung kommen. Ein mit Tarnnetzen verschleiertes Zelt stand schon auf dem Hof, sogar einen eigenen Koch mit etwas kleinerem Küchenzelt setzten sie ihm abseits an den Gartenzaun. Vielmehr aber ärgerte sich Fritz über den Zustand seiner Tiere.

Pferde und Kühe kannten es nicht, über Nacht auf der Weide zu bleiben, sie kamen immer abends in den Stall. Hoffentlich passierte da nichts. Alles nur, weil er Bürgermeister war und als Einziger im Ort seit einer Woche ein hochmodernes Waschhaus besaß, mit Badewanne, Kessel für die Wäsche und einem Badeofen, die beide mit Holz und Kohlen geheizt werden konnten. Er ließ alles so bauen, wie er es in Berlin bei seinem Bruder gesehen hatte. Außer dass das Wasser bei ihm mit einer Pumpe per Hand aus dem Brunnen neben dem Haus gezogen werden musste, die gleiche, die sich schon seit einiger Zeit in der Küche bewährt hatte. Die versprochene Einweihungsfeier musste Fritz leider ausfallen lassen.

Bialuch, sein Freund, sein bester Freund, leistete wieder einmal ganze Arbeit, zusammen mit den Maurern und Zimmerleuten. Nur die beiden Toiletten, seine Plumpsklos, befanden sich wie seit über dreißig Jahren hinter dem Stall, weit ab vom Wohnhaus und dem Brunnen.

Das von einem Zimmermann gebaute Häuschen war so angelegt, dass es vorne zwei Türen besaß, das eine Klo hieß Max, das andere Moritz. An den Seiten befanden sich Holzklappen bis kurz über Sitzhöhe. So konnte er den Kasten, der auf einer Schleppe aufgebaut stand, mit dem Pferd zum Misthaufen heraus ziehen und abladen. Im Frühjahr bekamen auch die Gurken ein gutes Stück vom Inhalt ab, sogar mit aufgeweichter Zeitung, seinem »Johannisburger Tageblatt«. Fritz lächelte bei dem Gedanken, dass seine Gurken reichlich zu lesen hatten.

Etwa alle drei Monate musste das gemacht werden, dann war die Kiste vollgeschissen, meistens sogar übervoll. Bei der Anzahl von derzeitigen Gästen musste er bestimmt bald wieder anspannen.

Für den heutigen Sonnabend erwartete Fritz noch anderen hohen Besuch aus der Stadt. Ein ganz unangenehmer Gast, den er lieber nur von hinten sah. Wenn du an den Teufel denkst, dann ist er nicht mehr weit, besagt ein masurisches Sprichwort. In dem Moment kam er auch schon auf den Hof gefahren. Fritz nahm die Gardine etwas beiseite und sah Perschall auf einem NSU-Motorrad knatternd einbiegen. Er setzte sich, tief Luft holend in einen der beiden breiten Sessel.

Um Ablenkung bemüht, schaute sich Fritz zufrieden im großen Paradezimmer um, das zugleich Trauerraum war und Feste aller Art im Haus präsentierte, wie z. B. Hochzeiten oder Bescherung am Heiligabend. Ansonsten wurde es so gut wie nie betreten, außer zum Saubermachen.

Alle Bauern in Masuren besaßen derartige vier Wände mit meist vornehmer Einrichtung, im Allgemeinen wurde es Paradezimmer genannt.

Die Stube maß gute vier mal fünf Meter, an der längeren Wand konnte man aus zwei Fenstern auf die Straße blicken. Vor den Fenstern stand eine große Biedermeiercouch, hinter dieser lag schon die Bettwäsche für den Oberst bereit. An der rechten Wand füllte fast über die gesamte Länge ein verschnörkelter Wohnzimmerschrank aus Kaiserzeiten den Platz aus. Linker Hand von Fritz stand ein Vertiko aus der gleicher Ära, darüber hing eine große, alte, verzierte Wanduhr, die mit ihrem ruhigen links-, rechts-, links-, rechts-pendeln zeigte, was die Sekunde gerade schlug. Nur allein Fritz zog die Uhr einmal pro Woche mit dem verzierten Vierkantschlüssel auf, sein Ritual.

Wehe aber, wenn die Uhr einmal stehen blieb. Eine Katastrophe war das, denn es bedeutete den baldigen Tod eines nahen Verwandten oder Bekannten aus der eigenen Familie oder ein anderes großes Unglück. Ein fest verwurzelter Aberglaube in Preußen, auch bei den Heinrichs.

Rechts in der Ecke dann schließlich ein kleiner Altar, ein zwanzig mal zwanzig Zentimeter großes, blank poliertes Holzregal, auf dem eine dicke über 100 Jahre alte Bibel lag. Daneben hing ein Bild von Jesus, daneben Fritz‘ Vater in jungen Jahren und daneben ein Kopfporträt von Adolf Hitler im Anzug, grimmig dreinblickend. Alle in genau dem gleichen Abstand aufgehängt.

Seltsamerweise wurde Fritz den Eindruck nicht los, dass der Führer da an der Wand ihm direkt in die Augen sah, egal, von welchem Punkt er im Zimmer zu dem Bild blickte, unheimlich war das.

In dem Moment öffnete Magarete die Tür und ließ Hans Peter Perschall eintreten. Fritz sprang ungewollt hektisch auf und begrüßte den Ankömmling überschwenglich.

»Herzlich Willkommen auf dem Großenhof, Obersturmbannführer.«

Der knallte mit einem Grinsen im Gesicht seine Stiefelhacken zusammen, streckte seinen rechten Arm aus und rief übertrieben und lauthals: »Heil Hitler, gutes Bild alles zusammen. So Hof, Heim und Familie, na alles, was ich in der kurzen Zeit sehen konnte, gefällt mir ausgezeichnet, Kamerad.«

Perschall redete die Sätze abgehackt und irgendwie gekünstelt.

Magarete schloss bescheiden die Tür, wie immer: »Ich geh mal Kaffee machen, so viele Soldaten im Dorf, du meine Güte…«

Der Hausherr platzierte Perschall mitten auf das Sofa, der sich auch sogleich genüsslich darauf fallen ließ. Fritz Heinrich verglich unauffällig den vor ihm sitzenden eingebildeten SS-Offizier mit dem ganz rechten Bild an der Wand. Er glich dem Führer bis aufs Haar. Gute 40 Jahre, Scheitel, wie es sich gehört auf der linken Seite. Die schwarzen Loden glatt geschmiert, voller Pomade, Zweifingerbart unter der Nase.

Alles andere passte dann wieder nicht so ganz, da sah er eher einem Schwergewicht wie Göring ähnlich. Seine Hände lagen bequem über einem Berg von Bauch gefaltet, als sei er im sechsten Monat schwanger. Von Anfang an mochte Fritz diesen Menschen nicht.

Perschall gab seine Haltung auf, er legte seine manikürten Hände ganz langsam, wie in Zeitlupe, auf den Eichentisch und beugte sich etwas vor. Seine Knopfaugen verengten sich zu kleinen messerscharfen Schlitzen.

Seine Stimme klang fordernd: »Pass mal auf, mein Freund, ganz abgesehen davon, dass wir quasi schon verwandt sind, denn ich glaube schon, dass du weißt, dass ich in Kürze, mit Verlaub, deine Schwägerin Annemarie heiraten werde, schreiben wir beide hier und heute deutsche Geschichte.«

Perschall holte eine kleine umgehängte Ledertasche hervor und nahm ein Bündel blauer Briefumschläge heraus, er sagte abwertend: »Einberufungsbefehle für deine Leute hier im Ort, nicht so wichtig, alles nur Kleinvieh. Aber das ist deine Zukunft.«

Er legte einen versiegelten Briefumschlag klatschend auf den Tisch, brach das Siegel ungeschickt auf und förderte eine Karte zu Tage, die er über den halben Tisch ausbreitete. »Auf dieser Fläche, mein Freund, bist du bald Bürgermeister oder wohl eher sozusagen Gebietskommissar. Da kannst du dann den Affen das Tanzen beibringen. Ich wurde heute früh von Berlin ermächtigt, dich in die streng geheime Verschlusssache einzuweihen. Die im Führerhauptquartier erwarten jederzeit den Einmarsch der Polen, Engländer und Franzosen ins Großdeutsche Reich. Unsere Wehrmacht wird diesen Überfall zu Wasser, zu Land und aus der Luft mit aller Härte vereiteln und die Verantwortlichen bestrafen.«

Hans Peter lief zur Hochform auf und schien tatsächlich auch zu glauben, was er gerade von sich gab. Er strich fast liebevoll mit seiner rechten Hand über das weiche vor ihm liegende Papier und referierte weiter: »Dass wir mit oder ohne Gottes Hilfe siegen werden, das, mein Freund, ist so sicher, wie das Amen in der Kirche. Der Führer hat dich ausgewählt, auf dem Territorium des jetzigen Polen – zwar ein ganz schönes Stück weg von hier, in der Nähe von Stabin – einem Gebiet vorzustehen, das doppelt so groß ist wie der Landkreis Johannisburg.« Perschall lehnte sich zufrieden zurück. »Das sind doch mal Aussichten, oder was, mein Freund?«

Dieses andauernde Mein-Freund-Gelaber ging Fritz vollkommen auf die Nerven. Mittlerweile hasste er sein Gegenüber bis aufs Blut.

Nicht nur, dass er von einem kurz bevorstehendem Krieg gegen den Nachbarn faselte, auch machte sich dieser Speckhaufen an seine Annemarie ran, und er musste sich eingestehen, beides gefiel ihm ganz und gar nicht. Wahrscheinlich konnte er weder das eine noch das andere verhindern?

Fritz erhob sich aus dem Sessel und sagte ausgesucht höflich: »Jawohl, Obersturmbannführer! Ich weiß zwar noch gar nicht genau, was das alles soll, aber darauf trinken wir erst einmal einen Bärenfang nach alter preußischer Sitte.«

Fritz holte aus dem Eichenschrank zwei Gläser und eine fast volle Flasche 75 prozentigen Bärenfang heraus. Bevor die Gläser von ihm randvoll gefüllt wurden, schüttelte er die Pulle kräftig durch, damit sich der abgesetzte Honig im Sprit gut auflöste.

»Zum Wohl, auf unser beider Zukunft und auf unser Vaterland.«

Fritz dachte besorgt darüber nach, wie sich der Nationalsozialismus immer mehr veränderte, jedenfalls kam sein unerschütterlicher Glaube an die neue Bewegung schon seit einiger Zeit mächtig ins Straucheln.

Beide leerten ihr Glas in einem Zug, Fritz schenkte wieder voll.

Hans Peter konstatierte enttäuscht: »Oh, das ist ja nur einfache Zuckerpansche.«

Er kippte sich aber trotzdem den kompletten Inhalt zum zweiten Mal hinter die Binde.

Allmählich bekam Fritz, sonst die Ruhe selbst, einen ganz dicken Hals. Seinen heiligen Bärenfang nannte dieses Schweinegesicht Pansche. Bärenfang bestand zu einem Viertel aus lauwarmen aufgelöstem Honig, vermischt mit zwei Viertel 98% reinem Alkohol, aus Kartoffeln oder Korn gebrannt. Fritz mixte am liebsten mit gebranntem Zucker, und füllte mit ganz wenig Wasser auf, am liebsten aber nahm er gar kein Wasser. Auf dem Großenhof bei Heinrichs kam noch eine halbe Zimtstange mit in die Flasche. Gut abgestanden, gut gekühlt, war es für die Ostpreußen ein Göttergesöff, also heilig, von wegen Zuckerpansche.

Sichtlich genervt fragte Perschall: »Habt ihr hier in der Wildnis nicht mal einen richtigen Schnaps, den man auch saufen kann? Los, her damit!«

Der Obersturmbannführer faltete mit einem Grinsen im Gesicht, vollkommen unaufgeregt, die vor ihm liegende streng geheime Geheimkarte zusammen und übergab sie Fritz Heinrich.

»So, mein Freund, damit habe ich den mir übertragenen Auftrag erfüllt. Nach Arys und Mittenheide muss ich die Tage auch noch reisen. Ein Glück bekomme ich in der nächsten Woche einen zurückgelassen Kraftwagen von einem emigrierten Juden aus Allenstein zur Nutzung. Dieser Schmock hat sich heimlich nach Frankreich abgesetzt. Das Auto ist ein schwarzer Opel Admiral, passt doch gut zu mir, dieser PS-Riese. Oder was meinst du?«

Perschall trank wieder sein Glas leer und lehnte sich ins Sofa zurück: »Mmh, schmeckt doch gar nicht so schlecht.«

Er faltete gemütlich die Hände über seinen dicken Wanst und sagte schmatzend, mit schon leicht glasigen Augen: »Fritz, du alte masurische Socke, stell dir vor, ich habe Hunger und Lebensmittelbezugsscheine brauchst du ja wohl keine. Ihr Bauern seid doch alles Schwarzschlachter, Wilddiebe und Schmuggler, oder nicht? Und lüg deinen Führer nicht an.«

Er lachte lauthals los und wollte gar nicht mehr aufhören. Am linken Oberkiefer fehlten ihm sämtliche Backenzähne in den ansonsten gesunden Zahnreihen.

Die Backenknochen im Gesicht von Fritz Heinrich malten unbewusst, er versuchte das eben Gehörte blitzschnell zu verarbeiten.

Die Adjutanten vom Oberst, auch alles Offiziere, sprachen nur von einem kurzen Manöver. Sie meinten, die jetzige Situation im Großdeutschen Reich sei schon schwierig zu verwalten und militärisch abzusichern, vor 1950 gebe es keinen Krieg. Im Höchstfalle komme es noch zu einer friedlichen Rückgabe von Oberschlesien und dem Korridor.

Andererseits hatte Fritz mit eigenen Augen ebengerade eine Karte vor sich liegen gesehen, die rein polnische Gebiete auswies, schon mit deutschen Ortsnamen im Untertitel. Das Ganze hatte so gar nichts mit dem Korridor zu tun.

Fritz goss wieder die Stamper voll. Magarete stellte einen Teller mit Griebenschmalzstullen auf den Tisch und brummte beim Rausgehen schlechtgelaunt und unmissverständlich: »Die Sonne ist noch nicht untergegangen und ihr seid schon beduselt, wenn das der Führer wüsste.«

Als die Brote aufgegessen waren und sich in der Flasche Schnaps nur noch ein Fingerbreit Bärenfang befand, dachte Hans Peter Perschall wohl, er müsste nunmehr, unaufgefordert und ziemlich betrunken, seine gesamte Lebensgeschichte zum Vortrag bringen.

Fritz hörte, weil wesentlich trinkfester, noch verhältnismäßig nüchtern und sehr interessiert zu.

Perschall begann: »Manche meinen, ich habe eine Schreib- und Leseschwäche, hm, dafür besitze ich aber ein fotografisches Gedächtnis, und das ist doch auch wichtig, oder nicht, also doof bin ich nicht. Die dämlichen Lehrer in Ratingen, das ist eine Kleinstadt im Ruhrgebiet, da bin ich geboren, haben mich in der vierten und sechsten Klasse ohne jeden Grund sitzen bleiben lassen. Da bin ich dann nach der sechsten auf den Bau gegangen, nach dem Motto: Kannst du Karre schieben, kannst du Arbeit kriegen. Eine Maloche, sag ich dir. Zum Glück, für mich kam die Bewegung. 1925 bin ich schon als 20jähriger in die NSDAP eingetreten.

Politik ist wesentlich besser als arbeiten, außerdem musst du ohne jeden Skrupel lügen können, ganz egal, in welcher Partei du gerade bist. Eines kannst du mir glauben, mein Freund, ich mach das nicht, bin kein 1-Prozentler, wie manch andere Kameraden im Reich. Ich gebe immer 120 Prozent für die Partei, ich bin braun bis unter die Knochen, deswegen haben sie mich auch ständig befördert und schließlich hierher nach fast Polen weggelobt, diese Schweine. Alles nur, weil ich so gut bin, so viel Klasse habe. Überall Neid auf der Welt und Klüngel, aber nicht mit mir, Kamerad Schnürschuh, nicht mit mir.

Du glaubst es vielleicht nicht, aber erst hier in Ostpreußen, da haben die Kampfgefährten erkannt, was für ein Potenzial in mir steckt.

Allerdings möchte ich auch liebend gerne wieder nach Hause. Am liebsten als Gauleiter von Württemberg-Hohenzollern, auf jeden Fall vorne mitmischen. Meine Chance wird irgendwann kommen, denn nach ganz oben ist noch viel Platz frei.«

Perschall hörte nicht mehr auf zu reden und überschüttete Fritz mit seinem Fachwissen.

»Wie du sicherlich weißt, haben wir einen Führer in der Partei meiner NSDAP, einen Stellvertreter des Führers, 18 Reichsleiter, 40 Gauleiter, 813 Kreisleiter, 26138 Ortsgruppenleiter, von denen du ja auch einer bist, Parteifreund Fritz Heinrich, 97161 Zellenleiter und sage und schreibe 511689 Blockleiter. Die Zahlen habe ich alle auswendig im Kopf und wir werden jeden Tag mehr, immer mehr, und merken muss ich mir dann auch noch immer mehr, ja ich Armer.«

Kreisleiter und Obersturmbannführer Perschall in Personalunion beugte sich mit seinem Oberkörper immer weiter auf die Seite und drohte umzukippen.

Er sagte: »Die Landflucht aus Mecklenburg, Pommern und Ostpreußen wundert mich gar nicht. Ihr lebt hier primitiv wie vor 100 Jahren, wie hinter dem Mond, aber das hat schon Bismarck tausendmal gesagt.«

 

Zitat von Bismark:

 

Wenn die Welt untergeht, geht sie in Mecklenburg 50 Jahre später unter.

 

»Insgesamt ist das hier alles weit unter meinem Niveau, wenn du weißt, was ich meine, mein Freund. Hä, Hä, irgendwann werde ich vielleicht auch mal Gauleiter von Berlin oder Sibirien oder Hamburg.« Die Schwerkraft ließ nun auch seinen Kopf bedenklich nach unten sinken. Er versuchte mehrmals vergeblich, seitlich aufzustehen.

»Volksgenosse, waaaas hast du mir gegeben, ich komm nicht mehr hoch, ich glaube, meine Beine sind gelähmt und pi... pissen muss ich auch. Annemarie wartet bestimmt schon lange auf mich, dass kleine süße Luder. Krrr, ich könnte schon wieder.«

Perschall lallte nur noch mit schwerer Zunge: »Hier bei euch braucht man -hick- nur einen Feuerwehrmantel zuuuu tragen, dann hat man -hick- gleich drei Weiber am Arm. Die Frauen sind komplett -hick- alle uniformgeil, -hick- das kannste mir glauben.«

Er sabberte bereits aus beiden Mundwinkeln, als wenn man einem Hund eine dicke Brühwurst vor die Nase hält und sie immer wieder wegzieht, bevor der Köter zubeißen kann.

»Genauso sind die Weibsbilder hier - hick-.«

Der hochprozentige Bärenfang wirkte bei dem Offizier äußerst nachhaltig, er laberte nur noch schwer Verständliches in Wortfetzen, auch sein Schluckauf wurde immer schlimmer.

»Au... Au... Außerdem ist Obersturmbannführer das gleicheeee wie Major bei der Wehrmacht. -hick- Soooo und nicht anders ist das, mein Fr…«

Noch während er sprach, knickte der schönste selbst ernannte Retter der Menschheit und Frauenheld ganz langsam zur Seite und begann lautstark zu pusten, mit kurzer Umstellung auf Schnappatmung und wieder lang anhaltendem Schnarchen.

Fritz schaute besorgt auf das Elend vor ihm. Das also ist das Vorzeigebeispiel der allseits so hoch gepriesenen Herrenrasse? Wenn das so ist, na dann gute Nacht, mein Deutschland.

Wie tot verharrte Perschall in dieser ungesunden Haltung bis zum nächsten Morgen. Fritz war mit sich und der Welt zufrieden. Er sagte mit Hohn in der Stimme zu seinen Damen: »Wenn morgen ein richtiger Offizier bei uns Quartier nimmt, ziehen wir ihn vom Sofa runter, raus auf den Hof. Dann können die Gänse ihn fressen oder meinetwegen auch die Schweine, die lassen nichts von ihm übrig, bis auf die Zähne – vielleicht.«

Frederike regte sich nur scheinbar fürchterlich auf.

»Menschke, Fritz Krepliger, wenn dich einer hört, am liebsten möchte ich nach Schlösschen fahren. Mit dem da bleibe ich nicht länger unter einem Dach.«

Sie flüsterte mit vorgehaltener Hand und kicherte dabei: »Guck mal, wie grässlich der aussieht, wie ein dickes Schwein. Hoffentlich spuckt er nicht unsere schönen alten Möbel voll, wo wir doch den hohen Besuch im Haus erwarten.«

Fritz steckte sich kurzerhand das Paket blauer Briefe ein und setzte seine grüne Schiebermütze auf, die er so gern mochte. »Ich geh mal kurz zu Pitkern rüber, mal sehen, was er zu der Post hier sagt.«

Er klopfte dabei auf seine Jackentasche und ging eilig aus dem Haus, auch schon ein wenig wacklig auf den Beinen. Von der Polenkarte würde er ihm allerdings nichts erzählen, das musste Fritz erst einmal selber verdauen.

 

Arys, die Soldatenstadt im Kreis Johannisburg mit kaum mehr als 3800 Einwohnern, beherbergte den größten Truppenübungsplatz im Deutschen Reich. Auf mehr als 40000 m² konnten sich Panzer und Infanterie-Soldaten austoben und Gelerntes aus dem Soldatenhandwerk immer und immer wieder üben. Genügend Platz gab es auf den riesigen Sandplätzen und im Wald für den hoffentlich nie eintretenden Ernstfall.

Bereits im Frühjahr 1939 begann Generalmajor von Tauber in Arys mit der Aufstellung der 161. Infanterie-Division der Wehrmacht. Wofür eigentlich?

Tauber wusste längst, was andere nur ahnten.

Spätestes zum Ende des Jahres sollte die Aufstellung der Division abgeschlossen sein. Zum anderen beaufsichtigte der General den Bau eines gewaltigen Großbunkers, der sich nach Fertigstellung auf fast 10000m², bis zu 17 Meter tief unter dem östlichen Übungsplatz ausdehnen sollte und das in nicht einmal zwanzig Meter Entfernung von der eigentlichen Kasernen Arys.

Angeblich diente der Bau zur Unterbringung für Offiziere, Soldaten, Verpflegung, Waffen und Munition für das gesamte Objekt.

In Wirklichkeit sollte dieser Bunker nur als Vorwand herhalten, ein reines Ablenkungsmanöver. Die Allerwenigsten, genauer gesagt fast niemand der dort stationierten Offiziere und Soldaten, wusste genau, was da so tief unter der Erde noch entstehen sollte.

 

Der gesamte Standort befand sich seit Tagen in einem Ausnahmezustand, alles glänzte sauber und ordentlich in der derzeitigen Sommerhitze, denn hoher Besuch aus Berlin hatte sich angesagt.

Der Führer persönlich mit weiteren hochrangigen Persönlichkeiten traf in wenigen Stunden mit dem Flugzeug »Fieseler Storch« zur Besichtigung der neuesten Bunkeranlagen erst in Arys und später dann noch einmal in der Nähe von Rastenburg ein.

 

Beide Bunkeranlagen sollten grundverschiedenen Zwecken dienen. In Arys gab es ja besagten riesigen Luftschutzbunker, aber unter diesem entstand noch ein wesentlich kleinerer Bau, er wurde geführt unter dem Decknamen Nibelungenhöhle.

Anders bei Rastenburg, wo mehrere Bunker auf dem Erdboden als meterdicke Eigenheime entstanden. Das Areal erhielt den verschlüsselten Namen „Wolfsschanze“. Man munkelte im Heer, dort würde unter dem Deckmantel einer Chemiefabrik ein gigantisches Führerhauptquartier entstehen.

 

Marta hatte sich in den vergangenen Wochen auf dem Großenhof rar gemacht. Zudem begann sie in der Hauswirtschaftsschule, die sich in Johannisburg in der Lycker Straße befand, ab ersten September eine dreijährige Lehre. Den berufsbegleitenden praktischen Teil absolvierte sie bei ihrer Mutter im »Goldenen Anker«. So war es mit der Schulleitung abgesprochen. Keine zehn Tage mehr und dann begann der Ernst des Lebens. Marta freute sich riesig auf die kommende Ausbildung, denn nicht viele Eltern konnten sich eine Lehrstelle für ihre Kinder leisten und schon gar nicht für ein Mädchen.

Allgemein galt die Auffassung im Reich, eine deutsche Frau gehört an den Herd und schenkt dem Vaterland viele Söhne.

Noch mehr freute sich Marta aber auf Alfred, der mit seinem Vater unverhofft im eigenen Automobil aus Berlin anreisen wollte.

Auf dem Telegramm stand lediglich: „Wir kommen ein paar Tage zu euch auf den Großenhof, Gruß, HH“

Das bedeutete aber nicht, wie die meisten annahmen, Heil Hitler, sondern nur Heinz Heinrich, immer wieder ein Lacher für den alten Krämer.

Da sich aber die halbe Wehrmacht auf seinem Bauernhof breitmachte, quartierte Fritz sie schon im Vorfeld bei Annemarie ein und das auch noch auf dem Dachboden der Pension. Eine bessere, freie Unterkunft gab es im Moment weit und breit in ganz Ostpreußen nicht.

 

Fritz und Heinz Heinrich umarmten sich herzlich vor dem Gasthof. Der Johannisburger Marktplatz schien dabei wie ausgestorben, denn am späten Abend erhellten die wenigen Gaslaternen die Umgebung nur spärlich.

Heinz reckte und streckte sich nach der ausgiebigen Begrüßung.

»Meine Güte, war das ein Ritt, wir sind zwar ein ganzes Stück Autobahn gefahren, aber der polnische Zoll und die immer schlechter werdenden Straßen hier bei euch, welch ein Desaster.«

Annemarie nahm ihrem Schwager das kleine Handgepäck ab. »Eines kann ich euch gleich sagen, edel seid ihr bei mir nicht untergebracht, da oben unter dem heißen Dach. Aber schlafen werdet ihr trotzdem gut. Ich habe euch gute leichte Daunendecken fertig gemacht und Seegrasmatratzen auf den Fußboden gelegt. Mehr kann ich im Moment leider nicht anbieten. Zum Glück habt ihr Ruth nicht mitgebracht. Ach so, Heinz, wenn ihr eure Sachen ausgeladen habt, fahre bitte das Automobil gleich hier nebenan in die Ausspannung bei Sadowski, dort ist genug Platz für dein stinkendes Gefährt, da kannst du es auch bis zur Heimfahrt stehen lassen. Der alte Mann kennt das schon, er sagt immer voller Wehmut, die Kraftwagen werden immer mehr und die Pferde weniger, Bobgenschieber brauchen wir dann auch bald nicht mehr. Allmählich kommt die moderne Welt selbst bei uns vorbei und geht nicht wieder, dammig nochmal.«

Heinz schaute über die Eingangstür, bevor er eintrat, und las die von der Witterung verblassten Worte auf dem Holz laut und mit Betonung vor: »Als Gast kommst du, als Freund wirst du gehen. Schöner Satz, finde ich«.

Sie gingen mit dem Gepäck durch die kleine Gastwirtschaft. Auf der linken Seite standen fünf Holztische mit verschnörkelten Stühlen, auf der rechten Seite ein hoher Tresen mit Messing verzierten Kanten, davor nahm ein großer Stammtisch den gesamten Platz ein, umringt mit demselben Gestühl. Auf der Tischmitte stand lediglich ein kleiner Stander, der dem hiesigen Schützenverein gehörte. Während den Vereinsversammlungen musste Annemarie alle Tische zusammenstellen, dann war die Bude immer gerammelt voll.

Auf dem Weg weiter kamen die neuen Gäste im recht schmalen Gang an den modernen Spültoiletten vorbei. Geradeaus ging es direkt in die Küche und von da aus auf den Hof, der schon zu Sadowski gehörte.

Die Wirtin flüsterte: »Kommt mir bitte nach, hier die Treppe hoch, seid aber leise, meine Gäste schlafen schon.«

Sie gingen der Chefin brav hinterher, die Treppe knarrte bei jeder Stufe bis zum Dachboden hinauf, eine seltsame Musik.

Heinz meinte scherzhaft: »So besoffen kann die schlafende Meute gar nicht sein, dass die den Krach nicht hören, den wir gerade machen«.

»Spokeu – ruhig, ihr Berliner Buletten«, schimpfte Annemarie leise, aber nicht wirklich.

Alfred fragte so ganz nebenbei, er ging direkt hinter seiner Tante die Stufen hoch: »Wo ist eigentlich Marta?«

»Ach ja, Marta, die musste noch schnell Post wegbringen, vom Johannisburger Landkreisamt nach Wiartel und Turoschel, oder wie es jetzt heißt Mittenheide. Angeblich dringende Depeschen, das hast du deinem krepligen Onkel Fritz zu verdanken. Meine Tochter ist mit Sadowskis Goldrubel losgeritten und kommt erst morgen früh nach Hause, sie bleibt über Nacht in Grünheide. So und nicht anders ist das, brauchst gar nicht so verdattert zu gucken. Ich mache mir so schon Sorgen genug, aber spät am Abend in der Gegend herum zu reiten, das geht gar nicht. Siehst du, da wirst du dich wohl oder übel bis morgen gedulden müssen, mein Junge.«

Annemarie kam außer Atem auf dem Dachboden an.

»So, ihr beide schlaft gleich hier neben der Räucherkammer, esst mir ja nicht den restlichen Schinken auf, natürlich mach ich euch auch noch einen Teller mit Stullen, falls ihr Hunger habt, ansonsten sehen wir uns zum Frühstück.“

Ohne eine Antwort abzuwarten ging die quirlige Wirtin eilig Stockwerk für Stockwerk die Treppe herunter, Fritz folgte ihr ebenso eilig, wortlos wie ein Dackel.

Auf der letzten Treppenstufe zum Gastraum griff er ihr mit einer Hand von hinten blitzschnell fest um den Hals. Annemarie drehte sich mit eingezogenem Genick zu ihm um. Sie jammerte leise: »Fritzi, was soll das, du tust mir weh, was ist, wenn jemand kommt.«

Fritz knöpfte trotzdem mit seiner freien Hand geschickt ihre Bluse auf, umfasste den linken Busen und zog die Frau dicht zu sich heran, dann suchte er mit zwei Fingern den kleinen Vorhof mit dem ungewöhnlich langen und dicken Nippel, der sich bei seiner Berührung sofort hart aufrichtete. Allein dafür liebte er sie abgöttisch.

Bereits seit einer riesengroßen kleinen Ewigkeit vermisste er dieses warme weiche Weib, körperlich wie auch seelisch. Seine Entscheidung stand lange fest. Seit über einem Jahrzehnt lebten die beiden Menschen neben der körperlichen Lust auch eine intensive Seelengemeinschaft aus. Praktisch eine schmerzhafte Bindung auf Dauer, von der niemand wissen durfte, und auch ohne einem schlechten Gewissen Magarete gegenüber.

 

Annemarie stöhnte leise auf und ließ sich bereitwillig gegen den Tresen drücken. Sie erwiderte seinen leidenschaftlichen Kuss stürmisch, zitternd wie im Rausch. Er drehte sie um und drückte seine Geliebte kopfüber auf den Tresen. Hastig raffte er ihren langen Rock und Unterrock weit nach oben. Wie von Sinnen zerriss Fritz ihre weiße Unterhose. Mit festem Griff packte er ihr breites, schneeweißes Gesäß und drang heftig in sie ein. Annemarie krallte sich mit beiden Händen am Bierzapfgestänge fest und drohte es abzureißen. Sie biss sich vor Lust in den Unterarm, um nicht schreien zu müssen. Sie galoppierte einem nie da gewesenen Orgasmus entgegen. Auch Fritz entlud sich in einem letzten kraftvollen Stoß und legte sich danach mit seiner ganzen Masse erschöpft auf den noch nachbebenden Körper von Annemarie.

 

Nach einer Ewigkeit wendete Fritz seinen Kopf zur Eingangstür, Marta stand dort wie zur Salzsäule erstarrt da und schaute seit geraumer Zeit dem Liebesspiel der beiden zu, ohne es wirklich zu verstehen. Ihr Blick hing wie gebannt an der hellen Flüssigkeit, die am rechten Schenkel ihrer Mutter langsam herunterran und am Knie in einem Faden abtropfte.

 

Marta wollte an diesem Tag nicht auf dem Großenhof bleiben. Die vielen Soldaten verbrachten noch das ganze Wochenende in Grünheide. Dann kam noch die Vorfreude auf die Ankunft von Cousin Alfred dazu. Außerdem brauchte sie sich gar nicht in der Dunkelheit orientieren, Goldrubel galoppierte wie der Teufel nach Hause zu seinem Hafersack, er kannte den Weg zum Stall mit geschlossenen Augen.

 

Annemarie raffte fahrig ihre Röcke glatt und ging auf ihre Tochter zu. Sie schlug Marta mit der flachen Hand kräftig links und rechts ins Gesicht, zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben. Sie sagte wütend und mit hochrotem Gesicht, unter Schock, unnatürlich schreiend: »Geh sofort hoch in dein Zimmer, du ungehorsame Göre!«

Marta rannte heulend die Treppe hoch.

Annemarie stemmte beide Fäuste in ihre schmale Taille. Sie pustete, den Kopf zurückwerfend, eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht: »So, und jetzt zu dir, du geiler Bock.«

Sie ergriff Fritz am Arm und führte ihn eilig aus dem Lokal, als könnte sie damit alles ungeschehen machen.

Vor dem Gasthaus ließ sie ihn mit den Worten stehen: »Fritz Heinrich, in Zukunft halte dich fern von mir und meinem Haus.«

Dann flog die Tür geräuschvoll zu und Fritz stand alleine in der Dunkelheit, seine Gefühle überschlugen sich. Er dachte: „Was für eine wunderbare Frau und was für ein Idiot bin ich.“ Kopfschüttelnd holte er seinen Zweisitzer aus der Ausspannung und machte sich auf den Heimweg.

 

Mutter und Tochter redeten nicht ein einziges Mal über das Vorgefallene, zu keiner Zeit, so als wäre das Ganze niemals geschehen.

 

Am nächsten Morgen fuhr Heinz Heinrich nach dem Frühstück gut gelaunt mit seinem Sohn und Marta zum Tannenbergdenkmal.

Heinz wollte unbedingt das monumentale Reichsehrenmal der Schlacht bei Tannenberg mit der Ruhestätte von Paul Hindenburg besuchen, den er sehr verehrte. Marta kannte das schon. Schließlich galt dieser Ort als absolute Attraktion, nicht nur in Ostpreußen, sondern im gesamten Reich und sie war dort schon mehrmals zum Pflichtbesuch von der Schule aus, also für sie langweilig.

Nach der ungewohnt schönen Autofahrt für Marta, gleich nach dem Mittag, es gab Königsberger Klops, führte Marta ihren großen Buben in ihrer Stadt herum. Sie gingen vom Markt die Schmiedestraße entlang, an den großen Speichern vorbei in die Wasserstraße. Dann weiter, immer noch schweigend, über die Treppenbrücke den Pissek entlang, der jetzt wesentlich arischer Galinde hieß, runter zum Ruderclub Masovien. Dort setzten sich die jungen Leute dicht nebeneinander auf den menschenleeren hölzernen Anleger.

Die Galinde entsprang genau hier, in einem kleinen Delta aus dem Roschsee. Die viel zu warme Spätsommersonne machte das Wasser zu einem lichtüberfluteten Spiegel, der ständig seinen Winkel änderte. Etliche Segelboote lagen abgetakelt am schweren hölzernen Steg ruhig im Wasser, manche nebeneinander im Dreierpack angebunden.

Alfred kniff seine Augen zusammen, um die Blendwirkung zu verringern. Er dachte: Keine Ahnung, was ich hier eigentlich mache. Sein Vater musste ihn förmlich anbetteln, auf die anstrengende Reise nach Johannisburg mitzukommen. Aber na gut, ausspannen für das große Ganze, warum nicht.

Er betrachtete gelangweilt, mit den Füßen hin und her schaukelnd, Martas Gesamterscheinung. Dicke Zöpfe, großer Busen, strammer Hintern, krause blonde Haare auf den Armen und Beinen, kurze Nase, kantiges Gesicht, sicher alles fest und stramm.

Aber nein, für die Reichshauptstadt war das nichts, mit so einer konnte er sich zu Hause auf gar keinen Fall sehen lassen. Primitiv oder netter gedacht, sie sieht aus wie ein haariges Äffchen aus Hagenbecks Zoo.

Seine neue Freundin Alma, auch wie er aus Berlin Mitte, rauchte schon Zigaretten mit Spitze, trug Lippenstift und Seidenstrümpfe. Alma sah wesentlich jünger aus als 25 Jahre, fand er. Und sein Vater Heinz meinte, sie würden gut zusammenpassen, der Sohn eines Kaufmanns und die Tochter eines Magistralrates, da kommt Geld zu Geld.

Alfred legte seine Hand auf Martas Schulter. »He, meine Kleene, was ist denn bloß los mit dir, du bist heute schon den ganzen Tag so komisch. Wir haben doch erst Freitag, den 25. August 1939, und nicht Freitag, den 13.«

»Ach Alfred, du bist mein bester Freund, einen besseren wie dich gibt es auf der ganzen Welt bestimmt nicht. Nimm mich mit nach Berlin, bitte bitte. Ich mag hier nicht mehr bleiben, ich bin so unglücklich.«

Marta fing aus dem Nichts an zu heulen. Eine Art mystischer Gabe, das die Frauen auf der ganzen Welt perfekt beherrschen. Egal wie arm oder wie reich die Weiber auch immer sind, auf Knopfdruck heulen geht immer.

Marta wimmerte kaum hörbar: »Meine Mutter hat mich gestern geschlagen, wie ein Stück Vieh. Ich kann mich nicht erinnern, dass das jemals vorher passiert ist. Außerdem muss Onkel Fritz meiner Mama sehr wehgetan haben, sie biss sich vor Schmerzen den Arm blutig und ihre Unterkleider hat er auch zerrissen. Warum auch immer, keine Ahnung. Ich habe alles mit eigenen Augen gesehen, glaube mir, sie benahmen sich schlimmer wie die Tiere.«

Alfred drückte tröstend Martas Kopf an seine Brust: »Ich schwöre dir, meine kleine Zaubermaus, das ganze Wochenende werde ich mich um dich kümmern, und im nächsten Jahr bin ich alt genug, dich zu heiraten. Dann kommst du zu mir in die Hauptstadt, du schenkst mir zehn Kinder, zuerst fünf Jungen, dann fünf Mädchen, und wir leben für immer glücklich bis an der Welt Ende.«